Kultur

Lauter schräge Vögel: Mehmet Sözer und Luise Deborah Daberkow als der Arzt Jewgeni Sergejewitsch Dorn und als die Angestellte Polina Andrejewna. (Foto: Arno Declair)

03.11.2017

Absurdes Rumhampeln

Das Münchner Volkstheater verwandelt sich mit Tschechows „Die Möwe“ in einen russischen Komödienstadel

Wirklich vogelwild, diese Möwe! Aber dass Hausherr Christian Stückl an seinem Münchner Volkstheater aus dem Tschechow-Klassiker eine schräge Farce macht, passt ausgezeichnet. Schließlich sind die typischen Untergeher, die sich in diesem Stück auf einem Landgut treffen, mit einer Ausnahme alle in Rollenmustern gefangen; und dieser verzerrten Identität entsprechend hampeln sie wie absurde Panoptikumsfiguren herum in einem Setting, wo offenbar der Klimawandel voll zugeschlagen hat: jener See, an dem Tschechows elegische Komödie Die Möwe (1895) spielt, schwappt in dieser Inszenierung bis in die Seitengemächer des Gutshauses. Ausstatter Stefan Hageneier ließ eine große Pfütze volllaufen auf der Bühne, wo er im Vordergrund ein herrschaftliches Flügeltüren-Ambiente in zeitloser, weißgrauer Verschlissenheit errichtete. Weil in dem surrealen Schwank alle mit riesigen Lockenperücken und blass geschminkten Clowns-Gesichtern auftreten, erscheint der Stargast des Abends folgerichtig als eine Art Horror-Clown: Jule Ronstedt spielt in Pluderröckchen und Ringelstrumpfhosen das Muttermonster Arkadina, das sich über die dichterischen Ambitionen seines Sohnes Konstantin lustig und ihn zur Schnecke macht.

Tollpatsch und Zausel

Andere schräge Vögel aus diesem Knallchargen-Haufen sehen aus, als wären sie der Operette Pariser Leben entsprungen mit ellenlangem Zwirbelschnurrbart, Halbglatze und Hochwasserhosen (Mehmet Sözer). Ebenso aus dem 19. Jahrhundert stammt der Großdichter Trigorin, bei Jakob Geßner ein eitler Tollpatsch im roten Frack. Den Gutsherren wiederum gibt Pascal Fligg als langhaarigen Altachtundsechziger-Zausel, und eine Tabak schnupfende wilde Hummel macht die wunderbare Pola Jane O’Mara aus der Verwaltertochter Mascha, die unglücklich in den Nachwuchsdichter und Möwenjäger Konstantin verliebt ist. Der sieht seinerseits bei Oleg Tikhomirov aus wie ein Stefan-George-Verschnitt. Den Vogel – einen von vielen an diesem Abend – schießt Luise Deborah Daberkow ab. Sie gibt die Hausdame Polina als stockbiederes Muttchen mit Dutt und Gesundheitsschuhen, das ein schwer neurotisches Dauerzucken an den Tag legt. Gelungen ist der Abend immer dort, wo Stückl das macht, was er am besten kann: eine Mordsgaudi abziehen. Die tragischen Passagen wirken dann allerdings nur noch wie unpassend drangepappt an diesen russischen Komödienstadel. Um so bewundernswerter, dass es der jungen Julia Richter gelingt, inmitten einer fidelen Irrenhaus-Besatzung die einzige ernsthafte, wirklich menschliche Figur völlig glaubwürdig erscheinen und im Sperrfeuer der Knalleffekte in berührender Tragik erstrahlen zu lassen. Mit Rauschgoldengelfrisur spielt sie Konstantins Geliebte Nina, eine Unschuld vom Lande, die in ihrer Naivität und Kunstschwärmerei mehr Weisheit besitzt, als all die abgewrackten Persönlichkeitsattrappen um sie herum. (Alexander Altmann)

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