Kultur

„U-Bahn“ (1963, Ausschnitt), eine Arbeit Hödickes aus Kunstharzfarbe auf Leinwand. (Foto: VG Bild-Kunst, Roman März)

24.07.2020

Ästhetik des Provisorischen

Die Staatliche Graphische Sammlung in München zeigt Werke von Karl Horst Hödicke, dem Urvater der neoexpressiven deutschen Malerei

Es sieht aus, als habe der Maler einfach Pinsel mit verschiedenen Farbresten an der Kante eines alten Pappdeckels abgestreift. Das Kunststück, das dabei rauskam, heißt Geologische Faltung am Horizont, wirkt wie ein reiner Zufallsfund – und ist ein Meisterwerk. Ein absichtsloses Meisterwerk sozusagen, das dem Künstler Karl Horst Hödicke 1991 wie nebenbei unterlief, wobei dessen Genialität dann auch darin besteht, das Kunstwerk überhaupt als solches zu identifizieren, es kraft der Phantasie aus den Schlacken konventionellen Sehens zu bergen.

Aber angeblich hat schon Leonardo da Vinci seinen Schülern geraten, in den Flecken und Schrunden verwitterter Hausmauern Gestalten, Gesichter und sonstige Figurationen zu entdecken, um so ihre Phantasie zu üben. Vielleicht ist es sogar die größte Leistung Karl Horst Hödickes, dieser Ästhetik des Geschehenlassens Geltung zu verschaffen.

Seit Mitte der 1970er-Jahre, einer Blütezeit oft verkopfter Konzepte, vertritt er mit seiner Malerei auf Papier die radikale Gegenposition dazu: eine offene Kunst, die nicht vorgefasste Absichten realisiert, sondern im Schaffensprozess selbst erst zu überraschenden Findungen gelangt.

„Junge Wilde“ beeinflusst

Mit dieser Haltung, die nicht, wie man gerne sagt, das gelegentliche Scheitern in Kauf nimmt, sondern vielmehr im (vermeintlichen) Misslingen die Möglichkeit sieht, Normen und Werte, an denen das Gelingen gemessen wird, infrage zu stellen, hat Hödicke Generationen von Künstler*innen beeinflusst. Allen voran diejenigen, die Anfang der 1980er-Jahre als „Junge Wilde“ Furore machten. Natürlich waren es auch seine lapidaren, entschlossenen Formprägungen und sein heftiger, unmittelbarer Pinselduktus, die ihn, deutlicher noch als seine Kollegen Baselitz und Lüpertz, zum Urvater der neoexpressiven deutschen Malerei von Helmut Middendorf bis Bernd Zimmer machten.

Im Grunde ist es die Ästhetik des Provisorischen, bewusst Ungeschlachten, des im besten Sinne Verantwortungslosen, wozu dieser Künstler das Tor aufstieß: ein emanzipatorisch-rebellischer Akt, der ohne Pathos daherkommt, sondern mit der selbstverständlichen Dissidenz des Schöpferischen, das ohne respektlose Selbstermächtigung unmöglich bleibt.

Dass Regelbruch und Verweigerung von Anfang an entscheidende Faktoren im Schaffen Hödickes (wie eigentlich jedes großen Künstlers) waren, macht die Staatliche Graphische Sammlung in der Münchner Pinakothek der Moderne mit einer Retrospektive auf sein Werk sichtbar. Geboren 1938 in Nürnberg, wuchs der Maler in München auf und ging 1957 nach Berlin – eine Stadt, die ihm über die Jahrzehnte zahllose Sujets für Bilder lieferte.

Während seines Kunststudiums dort orientierte er sich nur anfangs brav an der Abstraktion, wie einige Beispiele in der Schau zeigen. Denn noch als Student rebellierte Hödicke gegen diesen damals dominierenden Stil und wandte sich provokativ der verpönten Gegenständlichkeit zu. Etwa ein Jahrzehnt lang blieb der Maler dabei stilistisch der Pop-Art nahe, aber nachdem er 1974 Professor an der Berliner Hochschule der Künste geworden war, erfolgte der endgültige Durchbruch zur eigenen Form. Womit einmal mehr deutlich wird, dass erst materielle Unabhängigkeit den Verzicht auf jede (noch so unbewusste) Anpassung ermöglicht, denn Originalität hat immer zwei Wurzeln: Genie und Freiheit. (Alexander Altmann)

Information: Bis 13. September. Staatliche Graphische Sammlung, Katharina-von-Bora-Straße 10, 80333 München. Täglich außer Mo. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr.

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