Kultur

Mareile Blendl, Bettina Langehein und Philipp Weigand als namenlose Flüchtlinge auf dem Meer. (Foto: Marion Bührle)

04.03.2016

Alles muss raus

"Die Schutzbefohlenen" erzählt vom Ausverkauf der Zivilisation

Ein Drama schreibt sich fort: Seit 2013, als die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit ihrem Flüchtlingsdrama Die Schutzbefohlenen die Gemüter erregte, hat sie ihr aufwühlendes, provozierendes Bühnenwerk immer wieder erweitert. Zunächst hat sei einen „Appendix“, dann eine „Coda“ und zuletzt einen „Epilog auf dem Boden“ hinzugefügt. Am Staatstheater Nürnberg, das Die Schutzbefohlenen auf die Bühne stellt, steuert die aktuelle, hilflose Flüchtlingsdebatte der Politiker und vor allem die jüngsten Attacken auf Flüchtlingsheime und einen Bus mit schutzsuchenden Asylbewerbern ihre nicht minder besorgniserregenden Kommentare bei.

Antikes Flüchtlingselend

Elfriede Jelinek spannt mit den Schutzbefohlenen den Bogen bis zurück in die Historie, wenn sie sich auf die Schutzflehenden des Aischylos bezieht, der in seinen Hiketides schon vor 2500 Jahren das antike Flüchtlingselend beschwor. Und wie ein antikes Drama nimmt sich auch Jelineks sprach- und bildmächtige Elegie aus, mit der sie die offenbar zeitlos-ewig Schicksalsfrage nach der Freiheit und der Würde des Menschen beschwört: „Welches Land können wir betreten? Keins. Betreten stehn wir herum. Wir werden wieder weggeschickt.“ Mit dem Pathos einer erhabenen, ausgestellten Sprache, inszeniert auch Bettina Bruinier im Schauspielhaus Nürnberg die Zeitenwende unserer Tage. Die Bühne (Bühnenbild Mareile Krettek) ist leer; bis auf ein paar Stuhlreihen wie in einem Stadion, die das Publikum zum Teil des dramatischen Geschehens auf der Bühne machen. Gleich zu Anfang gehen einige Flüchtlinge in orangenen Schwimmwesten über Bord – und landen bei einer Wassernixe, bei Undine (Julia Bartolome in lackschwarzglänzenden Ganzkörpertaucherkleid mit langer Schwanzflossenschleppe); blubbernd und glucksend besingen sie ihr Ende und versinken im Bühnenboden. Es gibt keine Rollen und Spielfiguren. Die Darsteller reproduzieren und zitieren (über weite Passagen im Chor) als die Flüchtenden, die Fremden, aber auch als deren Feinde, die Fremdenhasser und Rassisten, wortgewaltig die Parolen und die Phrasen beider Seiten. Es sind Parolen, die auch als projizierte Spruchbänder über den Bühnenhintergrund flimmern – so wie die Filme und verwackelten Handy-Videos von endlosen Menschenströmen, die erst an Stacheldrähten und Mauern oder an den Phalanxen helmbewehrter Polizisten und Militärs zum Stehen kommen. Diese Unerträglichkeit des gegenwärtigen Seins gießt Jelinek in ihrem sarkastischen Abgesang, in ihrer nicht endenden Trauer- und Totenrede in eine manchmal ganz realistische, dann wieder poetisch abgehobene, beschwörende Sprache: angelehnt an Heideggers Jargon der Eigentlichkeit der „Gewesenheit“ und „Geworfenheit“; oder an das rechte Raunen von Peter Handke, die existentialistisch-nihilistische Absurdität und den Sprachleerlauf Samuel Becketts und die radikalen Sprachwehklagen einer „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ von Christoph Schlingensief.

Tödliche Maskerade

Was die ebenso eindrucksvolle wie bedrückende Nürnberger Inszenierung in einem Theater des Grand Guignol, in einem makabren Kasperltheater enden lässt, wenn die Schauspieler ihre Gesichter karnevalesk kalkweiß schminken und sich blutrote Clowns-Lippen aufmalen, so als ob die tödliche „Maskerade“ der ertrinkenden Flüchtlinge mit ihren signalfarbenen Schwimmwesten nicht schon der grausamen Bilder genug wäre. Dem setzt die eingesungene Helene-Fischer-Parodie die Krone auf, wenn ihr süßlich-kitschiger Schlager Atemlos durch die Nacht die Atmungslosigkeit der Ertrinkenden zynisch assoziieren lässt. Volksliedgut, Komm süßer Tod oder das Kindergeburtstagslied Wie schön, dass du geboren bist sorgen für bittere Ironie, die Bettina Ostermeier mit dunkel dräuender Musik unterlegt. Diesen Schlussverkauf der Menschlichkeit, der sich in der Doppeldeutigkeit des Werbeslogan „Alles muss raus!“ schrecklich bewahrheitet, diesen Ausverkauf der Zivilisation, unsere Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts eines säkularen, aber höchst gegenwärtigen Notstands der Menschenwürde führen die Nürnberger Schutzbefohlenen so eindringlich vor Augen, dass das Publikum erst betroffen zögerlich, dann umso stürmischer mit Beifall reagiert. (Fridrich J. Bröder)

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