Vor 26 Jahren wurde die mumifizierte Gletscherleiche Ötzi zufällig durch alpine Wanderer gefunden – und es war das gleiche Jahr, als Kevin Costners großartiger, authentischer Western "Der mit dem Wolf tanzt" in die Kinos kam. Was das miteinander zu tun hat? Nun: Wenn deutschen Filmemachern je eine adäquate Antwort auf das US-Epos gelungen ist – dann mit Felix Randaus "Der Mann aus dem Eis". Das Leben des Ötzis, der die Menschen bis heute fasziniert – es gibt Museen, Sachbücher und TV-Dokus, die sich mit seinem Leben beschäftigen – wird hier erstmals Inhalt eines Spielfilms.
Dass der Film handwerklich richtig gut ist, liegt zunächst an Jürgen Vogel in der Hauptrolle des Mannes aus der Jungsteinzeit. Der knapp 50-Jährige verfügt über eine kraftvolle Physis, nicht ein Gramm überflüssiges Körperfett behindert seinen durchtrainierten Körper: beeindruckend, wie er, schwer bepackt und in wenig komfortable Tierfelle gehüllt, bei tosendem Wind den schneebedeckten Berg hinauf stürmt. Jürgen Vogels intensives Spiel, sein Schmerz, seine Wut trägt die Geschichte – und zwar fast ausschließlich dank Mimik und Gestik, denn richtige Dialoge gibt es kaum. In den wenigen Sprechszenen reden die Steinzeitmenschen übrigens kein Deutsch, sondern eine mutmaßliche Frühform des Rätischen. Das dürfte, da der Regisseur (anders als einst Kevin Costner bei der originalgetreuen Wiedergabe der Sioux-Sprache) auch auf eine Synchronisation verzichtet, jedoch kaum jemand im Publikum verstehen. Eine mutige Entscheidung - eben sehr authentisch.
Diese durch keine künstlerische Stilisierung verfremdete Darstellung des Alltags vor 5300 Jahren macht den 96-minütigen Streifen glaubhaft wie eine National-Geographic-Dokumentation. Regisseur Randau und sein Team hatten sich vorab von anerkannten Wissenschaftlern beraten lassen. Nichts ist hier nur mal eben frei erfunden: Von der Einrichtung der Hütten, über die Schuhe und Waffen bis hin zu den praktizierten kultischen Zeremonien – überall wurde darauf geachtet, den aktuellen Stand der Forschung wiederzugeben. Den eigentlichen Dreharbeiten gingen mehrjährige intensive Vorbereitungen voraus.
Den dritten Teil zum Erfolg steuert die beeindruckende Kulisse der Südtiroler Bergwelt bei. Teilweise ein Selbstläufer: Alpine Landschaften wirken nun mal imposant auf der Leinwand, das wissen Kinogänger spätestens seit Der Herr der Ringe. Doch verfallen Felix Randau und sein Kameramann Jakub Bejnarowicz nicht der Verlockung, bei den Kamerafahrten in touristische Blickwinkel und Perspektiven der Gegenwart zu verfallen. Im 4. Jahrtausend v. Chr. waren die Berge der Feind des Menschen – und genauso erleben die Darsteller sie auch.
Natürlich ist die eigentliche Handlung frei erfunden – aber eben nicht völlig wild herbeifantasiert. Die von Kriminologen enthüllten Indizien – Ötzi (im Film heißt er Kelab) wurde von hinten mit einem Pfeil getötet und es war sehr wahrscheinlich kein Raubüberfall, weil ihm der Mörder alle seine Habseligkeiten ließ – erweitert Felix Randau zu einem spannenden Drama. Und das ist ziemlich zeitlos: Es geht um Gier und Gewalt, um Vergeltung und Schuldbewusstsein. Wohl nie zuvor wurde Jean-Jaques Rousseau dramaturgisch so grandios wiederlegt: Denn nicht erst die Zivilisation hat den an sich guten Menschen schlecht gemacht – nein, das Böse schlummert seit Anbeginn der Zeit in ihm und es ist allein seine persönliche Entscheidung, ob er ihm die Oberhand über seine Gefühle und Handlungen zubilligt.
Männer eines anderen Stammes hatten auf der Suche nach deren Heiligtum das Lager Kelabs überfallen, als dieser auf der Jagd war und alle Bewohner abgeschlachtet. Seine ganze Sippe ist bei seiner Rückkehr tot, nur ein Neugeborenes überlebte durch Zufall. Mit diesem auf dem Arm macht sich Kelab auf die Suche nach den Mördern. Als er im Wald eine Gruppe von unbekannten Händlern stößt, hält er sie fälschlich für die Mörder und bringt sie um – der Angehörige der Opfer wird in seinem Rachedurst selbst zum Verbrecher. Erst zu spät bemerkt Kelab seinen tragischen Irrtum.
Nach einer wilden Verfolgungsjagd durch die Berge stößt Kelab dann doch auf das Lager der wirklichen Mörder seiner Sippe – und tötet deren Anführer Krant und dessen erwachsenen Sohn, allein die kleinen Kinder verschont er. Das zuvor von Krant gestohlene wertvolle Heiligtum, das er nun wieder in seinen Händen halten kann, bedeutet Kelab aber plötzlich nichts mehr. Er erkennt, dass alles Unglück damit begann. Doch gerade als er den geheimnisvollen Stein wütend in eine tiefe Schlucht geworfen hat, holt ihn sein Verfolger ein. Es ist einer der von ihm zuerst überfallenen Händler aus dem Wald, der den Angriff wider Erwarten überlebt hatte und nun seinerseits Rache für den Mord an seinen Gefährten nimmt. Kelab alias Ötzi stürzt, vom Pfeil tödlich getroffen, in den Gletscher – wo er erst nach mehr als fünf Jahrtausenden gefunden werden wird. (André Paul)
Information: "Der Mann aus dem Eis" läuft ab 30. November in den Kinos.
Hauptdarsteller: Jürgen Vogel, André Hennicke, Franco Nero, Sabin Tambrea
Regie und Drehbuch: Felix Randau
Kamera: Jakub Bejnarowicz
Produktion: Jan Krüger
Dauer: 96 Minuten
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