Kultur

Für die Online-Plattform hat das Jewish Chamber Orchestra Munich unter Daniel Grossmann im Sommer 2022 im KZ Theresienstadt ein Rilke-Melodram von Viktor Ullmann eingespielt. Das Werk entstand dort 1944, kurz vor der Ermordung des Komponisten. (Foto: Daniel Grossmann)

06.04.2023

Am Ort des Grauens

Die E-Learning-Plattform „Musik im KZ Theresienstadt“ des Münchner Jewish Chamber Orchestras

Schon ein gewöhnlicher Besuch in Theresienstadt ist eine echte Herausforderung. Wer durch die KZ-Gedenkstätte in Tschechien geht, ringt angesichts des Horrors um Worte und Fassung. Umso couragierter ist es, dass an diesem Ort im Sommer 2022 Daniel Grossmann und sein Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) das Melodram Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Viktor Ullmann nach Rainer Maria Rilke eingespielt haben. Das Werk ist dort entstanden und auch dort am 28. September 1944 uraufgeführt worden. Ullmann ahnte zu diesem Zeitpunkt seinen Tod. Vom Ältestenrat des Lagers hatte er bereits einen Transportzettel ausgehändigt bekommen. 18 Tage später erfolgte seine Deportation nach Auschwitz. Dort wurde Ullmann in einer Gaskammer ermordet, vermutlich gleich nach seiner Ankunft. Er wurde nur 46 Jahre alt.

Das Rilke-Melodram aus Theresienstadt war Ullmanns letztes großes Werk. Und es ist das Herzstück der Internetplattform Musik im KZ Theresienstadt, realisiert von Grossmann und dem JCOM. Die Idee zu dieser Plattform ist geradezu bahnbrechend, weil sie neue, eigene Wege in der Vermittlung des Wissens um die Nazizeit geht. Dahinter steckt eine E-Learning-Plattform, die sich gerade auch für Schulen ab der 9. Lehrstufe eignet. Was man braucht, sind internetfähige Endgeräte. Sonst aber ist das Portal komplett browserbasiert und weltweit kostenlos abrufbar. Das Angebot ist bereits freigeschaltet. Neben Deutsch sind weitere Sprachen geplant, zumal Englisch.

Theresienstadt in 3D

Alles dreht sich um das kulturelle Leben im nordböhmischen Theresienstadt, heute Terezín, in Tschechien. Aus der ehemaligen Garnisonsstadt hatten die Nazis ab 1940 ein Konzentrationslager (KZ) gemacht. Wer das E-Learning-Angebot nutzt, bewegt sich frei und in eigener Regie durch 3D-Räume. Wie bei einem Computerspiel müssen Aufgaben gelöst werden. Daraus ergeben sich Codewörter, die weitere Räume öffnen. Das alles folgt zeitlich einer schulischen Doppelstunde, also 90 Minuten.

Bei der didaktisch-digitalen Umsetzung wurde mit dem DigiLab der Ludwig-Maximilians-Universität in München und dem XR Hub in Bayern kooperiert, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Mit Fotos, Originaldokumenten und einem Zeitzeugeninterview mit Michaela Vidláková taucht man ein in diesen Ort des Grauens. Im Zentrum steht jedoch die Neuaufnahme von Ullmanns Rilke-Melodram durch die JCOM-Truppe in 360-Grad-Videotechnologie. Als Sprecher konnte der bekannte Schauspieler Sabin Tambrea gewonnen werden. Alle Einspielungen erfolgten an Originalschauplätzen.

Da ist die „Kleine Festung“: Dort hatte die Gestapo 1940 ein Gefängnis eingerichtet, mit primitivsten Holzpritschen. Man kann sie noch heute sehen – die damaligen Zustände nur imaginieren: Fäkalien und Ungeziefer – der Gestank muss unerträglich gewesen sein. Der berüchtigte NS-Propagandastreifen Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1945) zeigt diese Zustände nicht, ebenso wenig die Folterkeller. Auch die Ermordung fast aller Mitwirkenden am Film (ebenso von Drehbuchautor und Regisseur Kurt Gerron) nach Fertigstellung des Streifens wurde buchstäblich totgeschwiegen. Unter diesen Opfern war auch der Komponist Hans Krása. Er wurde am 16. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert, gemeinsam mit Ullmann.

„Man kann diesen Ort nicht ausklammern“, sagt Bratscherin Shelley Soerensen und meint die Leichenhalle. „Allein das Eintreten: Man geht unter die Erde. Mein Bratschenkoffer stand dort, wo die Leichenpritschen waren.“ Es sei erschreckend, aber „wir müssen uns konzentrieren. Es ist also eine Mischung aus direkter Betroffenheit und absoluter Professionalität, weil dieses Projekt so wichtig ist.“

Für Grossmann hat die neue Online-Plattform auch eine zutiefst persönliche Motivation: Seine Großeltern waren in KZs interniert. Mit dem von ihm 2005 in München gegründeten JCOM pflegt und vermittelt er vor allem die jüdische Musiktradition.

Mit Leben füllen

Das neue E-Learning-Angebot atmet eine geradezu existenzielle Dringlichkeit. Die letzten Zeitzeug*innen sterben buchstäblich weg, und Gedenkstätten allein reichen Grossmann nicht aus. „Sie haben das Problem, dass sie schön aufgeräumt und geputzt sind – alles ist klinisch rein. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, wie das Leben hier einmal wirklich war. Mir geht es darum, wie man etwas direkt mit Leben füllen kann.“

Das ist Grossmann mit diesem Internetplattform mustergültig geglückt. Auch ein Testlauf am Gymnasium Nymphenburg in München bestätigte das. „Das ist eine echte Alternative zu dem, was man normalerweise im Unterricht zu diesem Thema lernt“, so ein Schüler. „Ich glaube, es ist sehr richtig und wichtig, dass dieses Projekt auch Emotionen direkt vermittelt.“ (Marco Frei)

Information: www.jcom.de/elearning

 

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