Kultur

Die 1913 errichtete Villa von Josef Ferchl erfuhr in über 100 Jahren drei Adressänderungen. (Foto: STAM)

19.02.2016

Am Rand der Geschichte

Zum Tag der Archive präsentiert das Staatsarchiv München sein Projekt „Bürgergeschichten“

Spannende Entdeckungstouren brauchen oft die richtigen Guides: Am Tag der Archive, diesmal am 5. März, führen Archivare zu manch entlegenem Winkel ihres Reichs, holen daraus Brisantes, Komisches und Berührendes publikumswirksam hervor. Das trifft auch auf die „Bürgergeschichten“ zu, das neue Projekt des Staatsarchivs München. Geschichte auch als Abbild individueller Lebensverläufe: Das möchte das Staatsarchiv München mit einem neuen Projekt erfahrbar machen. In den amtlichen Dokumenten, die in den Archiven zu finden sind, spiegeln sich häufig die großen Ereignisse – aber außen vor bleiben die vielen kleinen Ereignisse, die der unbekannte Einzelne in seinem Leben erfahren hat, die ihm oder seinen Nachfahren bis heute wichtig erscheinen. Dieses private „Archivgut“ möchte das Staatsarchiv der Vergessenheit entreißen, vor einem möglichen Verlust zu bewahren. Das Projekt heißt „Bürgergeschichten“: Menschen aus der Stadt und dem Landkreis München lassen ihre persönliche Geschichte, bzw. die ihrer Eltern, Großeltern oder anderer Menschen aus ihrem Umfeld, aufleben. Sie erzählen, wie ein persönliches Lebensumfeld von großen historischen Ereignissen, Personen der Geschichte oder Gebäuden und Orten aus ihrer Umgebung einmal mehr, einmal weniger tangiert wurden.

Staatsarchiv öffnet sich für die „Verwalteten“

Damit öffnet sich das Staatsarchiv München nicht nur für Unterlagen aus der Perspektive des staatlichen Verwaltungsapparats, sondern auch für die Blickwinkel der „Verwalteten“. Das Archiv rief dazu von Frühjahr bis Herbst 2015 in verschiedenen Zeitungen und bei Geschichtsvereinen auf, Erinnerungen, Anekdoten, Erzählungen, Bilder, Tondokumente oder dingliche Erinnerungsstücke zur Verfügung zu stellen. Es wurden viele Geschichten eingereicht: Anscheinend ist das Bedürfnis groß, seine Erinnerungen und Erlebnisse an die Nachwelt weiterzugeben. Es meldeten sich aber auch Menschen, die zwar keine Episoden aus ihrem Umfeld zu erzählen hatten, die aber durch den Aufruf des Archivs motiviert wurden, über ihre eigenen Wurzeln nachzudenken und nachzuforschen.

Erinnerungen an Gebäude und Persönlichkeiten

Da gibt es beispielsweise den Stadtteilhistoriker, der mit großer Akribie, Genauigkeit und Korrektheit Vergangenes aus seiner Lebensumgebung ans Tageslicht befördern möchte; den Familienforscher, der sich der Würdigung der eigenen Familiengeschichte verschrieben hat; einen ehemaligen Polizeikontaktbeamten, der seine Anekdoten und Erinnerungen im Selbstverlag aufgezeichnet und mit einer Fülle von Material aus Archiven angereichert hat; die Rentnerin, die ihre Erinnerungen beim Einmarsch der Amerikaner in ihre Wohnsiedlung gesammelt hat; den Kirchenmusiker, der sich den Notizen seiner Schwiegermutter über die Vorkommnisse im Stadtteil verpflichtet fühlt. Der Schwerpunkt der Geschichten liegt erwartungsgemäß auf der Zeit ab den 1920er Jahren bis in die Nachkriegszeit. Thematisch umfassen sie einen bunten Strauß von Erinnerungen. Dabei ranken sich Geschichten um steinerne Zeugnisse, Gebäude und Siedlungen in München, wie zum Beispiel die Reichskleinsiedlung am Perlacher Forst, das Gelände der Wiedefabrik in Johanneskirchen. Es geht auch um heute wenig bekannte Menschen wie Anna Maria (Amalie) Hohenester, Gastwirtin aus Deisenhofen, die wegen einer direkten Äußerung über Adolf Hitler in die Mühlen der Gestapo geriet (Anmerkung der Redaktion: Einen umfassenden Beitrag über Amalie Hohenester lesen Sie in der März-Ausgabe von Unser Bayern, BSZ Nr. 12 am 24. März). Dann stehen bekanntere Personen im Fokus, wie Hermine von Parish, deren Leben zwischen Luxus und Wahn oszillierte. Viele Geschichten beschreiben den Lebensalltag, wie zum Beispiel das Schulleben in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Im Folgenden zwei der vielen Geschichten, die ergänzt durch Unterlagen aus dem Staatsarchiv München in der Ausstellung Am Rand der Geschichte gezeigt werden, die ab dem „Tag der Archive“ im Staatsarchiv München zu sehen ist; ein Buch wird folgen.

Ein Haus, drei Straßen und fünf Generationen

Das Anwesen in der Seydlitzstraße 23 in Moosach, die Villa Salve, hat seit seiner Erbauung im Jahr 1913 drei Adressenbezeichnungen. Errichtet wurde die Villa von Baumeister Josef Ferchl aus München, der in Moosach die nach ihm benannten „Ferchlhäuser“ baute: das waren vor allem Wohnungen für Beschäftigte der Waggonbaufabrik Jos. Rathgeber A.G. Als Ferchl seine eigene Villa baute, wurde die Straße, in der er sein Anwesen errichtete, nach einem Moosacher Gemeindebeschluss in „Ferchlstaße“ benannt. Die Eingemeindung Moosachs im Juli 1913 brachte die Umbennung der Ferchlstraße in Scharnhorststraße mit sich. Als dann 1935 die an der Villa vorbeiführende Seydlitzstraße angelegt wurde, erfolgte die heute gültige Adressengebung. Dem Baumeister Ferchl waren in seiner Villa nur sechs Jahre vergönnt. Nach dem Ersten Weltkrieg in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, musste er sein Anwesen an Martin Wirthmann, einen ehemaligen königlichen Arrestverwalter, verkaufen. Das Haus überstand einen Bombenangriff und beherbergt heute die fünfte Generation der Nachfahren Wirthmanns: das Ehepaar Kohlbecher: Luitgard Kohlbecher ist eine geborene Wirthmann. Ihr Ehemann Viktor engagiert sich sehr für den Erhalt und Fortbestand des Anwesens in der Familie und hat die Materialien für das Projekt des Staatsarchivs geliefert.

Vom Häuslerssohn zum Postsekretär

Josef Amberger, 1875 in der Gegend von Kötzting als Sohn eines Häuslerehepaars geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Miltiärdienst prägte ihn. Dann bekam der Schneidergehilfe die Möglichkeit, als Postbote in den Staatsdienst einzutreten. Er war tüchtig – und wurde 1908 nach München versetzt, wo er den langersehnten Beamtenstatus erhielt, der ihm einen bescheidenen materiellen und beruflichen Aufstieg bis zum Postsekretär ermöglichte.

Diensteifriger Beamter kämpft gegen Rote Garden

Das erlaubte dem gläubigen Katholik, der sich in der Sozialarbeit engagierte, endlich eine Familie zu gründen. Er war ein national-konservativ eingestellter, diensteifriger Beamte – die Revolution von 1918 und die nachfolgenden Räterepubliken müssen ihn tief getroffen haben: Er schloss sich in München der Einwohnerwehr und nach deren Auflösung dem Verband der Vaterländischen Verbände an, die sich an der Niederwerfung der Roten Garden in München beteiligen. Kurz nach Hitlers Machtübernahme starb Josef Amberger im März 1933 im Alter von nur 57 Jahren. Seine Lebenszeugnisse und Unterlagen übergab seine Enkelgeneration an Lothar Schmidt, einen pensionierten Lehrer, der wiederum sehr viel zur Laimer Stadtteilgeschichte geforscht hat. (Ulrike Hofmann) Information: Ausstellung „Am Rand der Geschichte“ vom 7. März bis 23. April. Staatsarchiv München, Schönfeldstraße 3, 80539 München. Mo. bis Do. 8-18 Uhr, Fr. 8-13.30 Uhr.

INFO: Ausstellugen
Das Staatsarchiv München zeigt eine Ausstellung „Am Rand der Geschichte. Münchner Bürger erzählen“.
Das Bayerische Hauptstaatsarchiv bietet Lese- und Interpretationshilfen für mitgebrachte private Schriftstücke.
Das Staatsarchiv Würzburg gewährt interessierten Bürgern einen Einblick in die „Würzburger Stadtgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart“.
Das Staatsarchiv Amberg präsentiert Quellen zu Kaiser Karl IV. und der Oberpfalz.
Das Staatsarchiv Coburg bietet am Montag, 7. März eine Feierabendführung an.

Alle Aktionen zum Tag der Archive am 5. März unter: www.tagderarchive.de
24 Münchner Archive informieren auf ihrer gemeinsamen Internetplattform: amuc.hypotheses.org/tag/tag-der-archive

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