Kultur

Wie Jonathan Berlin gibt der Schauspielnachwuchs alles beim Vorsprechen. (Foto: Judith Buss)

06.11.2015

Barbarische Selektion

"Das Vorsprechen" in den Münchner Kammerspielen

Im Theater gibt es das Prinzip Casting-Show schon ewig, nämlich wenn die Absolventen der Schauspielschulen beim Intendantenvorsprechen (IVO) Proben ihres Könnens geben. Woraufhin die Mächtigen, die an Tischchen neben der Spielfläche sitzen und sich Notizen machen, vielleicht dem einen oder anderen der Nachwuchsmimen tatsächlich ein Engagement anbieten. Erstaunlich, dass bisher noch keiner drauf gekommen ist, zum IVO auch ganz normale Zuschauer reinzulassen. Diese Idee, die Boris Nikitin jetzt in der Spielhalle („Kammer 2“) der Münchner Kammerspiele verwirklichte, ist so genial wie naheliegend.

Schamloser Ausleseprozess

Ein „Readymade“ nennt der Schweizer Theatermacher sein Projekt "Das Vorsprechen", bei dem eine ohnehin stattfindende, quasi fertig vorgefundene Bühnenpräsentation insgesamt zum Kunstwerk erklärt und ausgestellt wird. Die Anwesenheit von Publikum macht das Begutachtungs-Ritual gleich viel lebensechter, als wenn die Eleven nur vor ein paar Hanseln sich den Wolf spielen. Schließlich weiß man heute ja, dass auch die Abgaswerte von Autos besser unter Realbedingungen gemessen werden, als im Labor. Hochbrisant wirkt dieser Abend aber, weil das, was hier eigentlich vorgeführt wird, ja nicht die gezeigten (und durchaus unterhaltsamen) Talentproben der Schauspielabsolventen sind; sondern vielmehr der schamlos durchgezogene Ausleseprozess mit seinem Machtgefälle, bei dem über Erfolg und Arbeitslosigkeit entschieden wird wie anderswo beim Bewerbunggsgespräch.

Hautgout der Heuchelei

Dieser Abend macht auf erschütternde Weise erneut bewusst: Was uns aus jedem Vorsprechen wie auch aus den noch viel, viel widerlicheren Castingshows im Fernsehen entgegengellt, ist nichts anderes als die Barbarei der gängigen Selektionen. Warum jedem „kritisch-engagierten“ Theater häufig der Hautgout der Heuchelei anhaftet, ist damit sofort klar: Das Theater ist auch nur eine Firma, wo der Chef die Leute einstellt und rausschmeißt, wo also nach eben den Prinzipien verfahren wird, die man auf der Bühne voll Inbrunst anklagt und pathetisch entlarvt. Insofern wirkt Nikitins erhellendes Projekt natürlich auch als Entlastungsmaßnahme, um das schlechte Gewissen der Entscheider und Bestimmer zu dämpfen, die ahnen, dass sie just jene Machtstruktur repräsentieren, gegen die sie mit ihren Spielplänen zu stänkern vorgeben. Die größte schauspielerische Leistung, die man an dem Abend zu sehen bekommt, ist jedenfalls der überzeugende Eindruck jugendlicher Unbekümmertheit, den alle zehn Absolventen der Münchner Falckenberg-Schule trotz der existenziellen Prüfungssituation vermitteln. Dass sie zudem eine solide Ausbildung genossen haben, merkt man: Hüpfen und singen können sie, ernst und tragisch sein, aber auch sehr komisch. (Alexander Altmann)

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