Kultur

Das Schicksal von Flüchtlingen verbindet sich mit der eigenen Geschichte: Robert Dölle im Monolog "Finsternis" von Davide Enia. (Foto: Birgit Hupfeld)

20.05.2022

Das tödliche Versagen Europas

Ein fesselnder Monolog von Davide Enia als deutschsprachige Erstaufführung am Münchner Residenztheater

Ihre Worte brennen sich tief ein ins Kollektivgedächtnis. Nach ihrer Wahl zur Bürgermeisterin der süditalienischen Insel Lampedusa im Mai 2012 richtet Giusi Nicolini einen offenen Brief an die Europäische Union (EU). „Ich bin entrüstet über das Schweigen Europas, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl hier die Zahl der Toten daran glauben lässt, es wäre Krieg.“ Die europäische Einwanderungspolitik nehme den Tod dieser Menschen in Kauf, um Migrationsflüsse einzudämmen und abzuschrecken, so Nicolini. Im Oktober 2013 kommt es zu zwei apokalyptischen Flüchtlingsdramen vor der Küste Lampedusas mit weit über 600 Toten. Nicolini fordert eine neue europäische Flüchtlingspolitik – vergeblich.

Diese furchtbaren Bootsunglücke bilden die Grundlage des Romans Schiffbruch vor Lampedusa von Davide Enia. Unter dem Titel Finsternis hat der gebürtige Sizilianer daraus einen Theatermonolog gemacht. Schon bei der coronabedingt als Internetstream realisierten Premiere des Residenztheaters hatte Robert Dölle ihn gestaltet. Die deutschsprachige Erstaufführung vor Publikum im Theater inszenierte jetzt ebenfalls Nora Schlocker. Dafür haben die Ausstatter Rosanna König und Jonas Vogt eine Küche aufgebaut. In ihr spielen sich die fesselnden 55 Minuten ab.

Als Enia berichtet Dölle, wie er von dem Münchner Autor Albert Ostermaier zu einem Literaturfestival an die Isar eingeladen wird. Einen neuen Text möge er mitbringen: über die Lage der Flüchtlinge in Süditalien. Er reist kurzerhand nach Lampedusa und nimmt seinen Vater mit. Dieser war einst Kardiologe, redet nicht viel. Manchmal regt sich Enia darüber auf, aber er liebt seinen Vater wie dessen redefreudigen Bruder „Zio Beppe“. Wenn Dölle als Enia mit seinem Vater oder Onkel telefoniert, überträgt eine Laptop-Kamera sein Gesicht übergroß auf eine Leinwand. Die Berichte aus Lampedusa werden nicht übertragen.

Mit unaufhaltsamer Intensität dringt man immer tiefer ein in ein Geflecht aus Privatem und Öffentlichem. Alles drängt ineinander. Hier werden persönliche Schicksale zusammengeführt: von der Familie Enias und der Flüchtlinge. Was bleibt, sind erschütternd abgründige und gleichzeitig schöne Momente.

Da ist Zio Beppe: Während Vater und Sohn auf Lampedusa Eindrücke sammeln, kämpft der Onkel in einem Krankenhaus in Palermo gegen den Krebs. Als der Tod naht, besucht Enia ihn. Er hätte gerne länger gelebt, flüstert Beppe seinem Neffen ins Ohr. Wenn Enia ihm liebevoll sagt, dass dies nichts geändert hätte, weil ihre Beziehung doch ohnehin so innig gewesen sei, brennen einem die Tränen in den Augen. Das tun sie auch, wenn ein Fischer auf Lampedusa erklärt, warum es rund um die Insel wieder verstärkt fleischfressende Seebarsche gebe. „Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.“

Der Kampf Beppes gegen den Krebs geht genauso verloren wie die Glaubwürdigkeit Europas. Auf die Forderungen der Bürgermeisterin von Lampedusa, die EU-Flüchtlingspolitik zu reformieren, reagierte auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht. Erst als 2015 Flüchtlinge vor den deutschen Grenzen standen oder gar starben, stellte sich ein Umdenken ein. Im Rückblick hat Merkel selber in Interviews ihr spätes Handeln bereut. Wenn osteuropäische EU-Staaten heute eine Reform der Flüchtlingspolitik ablehnen, können sie sich auch auf Argumentationen der deutschen Bundesregierungen bis 2015 stützen. Das Massensterben vor den Außengrenzen der EU geht tagtäglich weiter. Haben wir uns an diese Schande gewöhnt? (Marco Frei)

 

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