Kultur

Das Volk lässt Peter Grimes (Stuart Skelton) keine Wahl. (Foto: Wilfried Hösl)

11.03.2022

Erschreckend aktuell

Vom Mob gehetzt: der neue „Peter Grimes“ von Benjamin Britten an der Bayerischen Staatsoper

Die Geste soll befreiend sein, wirkt aber beklemmend. Bevor die eigentliche Premiere beginnt, spielt das Bayerische Staatsorchester wortlos Schillers Ode an die Freude aus dem Finalsatz von Beethovens Neunter. Laut Staatsopernintendant Serge Dorny wolle man damit ein Europa der geeinten Völker zum Ausdruck bringen: ein Europa des Friedens und der Brüderlichkeit. Das ist gut gemeint. Allerdings ist diese Ode zugleich die offizielle EU-Hymne. Vom russischen Aggressor Wladimir Putin wird der Staatenbund genauso als Feind angesehen wie die Nato. Ein möglicher EU- und Nato-Beitritt der Ukraine waren mit ein Grund für den Angriffskrieg. Mit dieser speziellen politisch-institutionellen Konnotation lässt sich also mit der Ode nur teilweise eine Friedensbotschaft transportieren. Genau das wäre aber dringend geboten.

Druck vom Publikum

Während die ersten Töne dieser Ode erklingen, erhebt sich das Gros des Publikums im Münchner Nationaltheater. Wer sitzen bleibt, auch einfach um die Reaktionen zu testen, muss strenge Blicke aushalten. Man fühlt sich wie das schwarze Schaf, fast schon wie ein Aussätziger wie Peter Grimes.
In dieser gleichnamigen Oper, die am Münchner Nationaltheater Premiere hatte, geht es Benjamin Britten auch um ein Kollektiv, das als Masse seinen Willen und seine Sicht strikt durchsetzt – wenn nötig mit Gewalt.

Die Münchner Neuinszenierung von Stefan Herheim unterstreicht dieses Narrativ. Statt wie so oft die pädophile Neigung der Titelfigur herauszustellen, interessiert sich Herheim für das überaus spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Wir und dem Du, dem Ich und dem Sie.

Wie im Gerichtssaal

Die von Silke Bauer entworfene Bühne gleicht einem dörflichen Festsaal, der sich – je nach dramatischer Zuspitzung oder Reduktion – erweitert oder verengt. Er wirkt bald schon mehr wie ein großer Gerichtssaal, in dem das Dorfvolk selbst über den Fischer Grimes richtet. Dieser soll einen Lehrling auf dem Gewissen haben. Für das Volk ist Grimes eine Art unheilvoller „fliegender Holländer“. Die Regie von Herheim und die packende Darstellung der Titelpartie durch Stuart Skelton unterstreichen das.

Wie weit die Mehrheit mit ihrem Haltungs- und Deutungsmonopol bereit ist zu gehen, zeigt sich am Ende der Oper. Bei Herheim bleibt Grimes nur eine Entscheidung: Entweder er fährt mit seinem Boot weit auf das Meer hinaus, um sich selbst zu ertränken, oder aber er wird vom Volk gelyncht. Jedenfalls verfolgt der Chor als Masse ganz genau, was Grimes zu tun gedenkt. Ihm wird der Rückweg verstellt, je weiter er auf den Strand hinausgeht. Noch dazu lässt Herheim den Publikumsraum hell erleuchten, wenn der Chor den Namen von Grimes geradezu herausbrüllt. In diesem Moment steht die Masse bedrohlich nah an der Rampe und starrt ins Publikum. Wir alle können zu einem Grimes werden, der außerhalb der Gesellschaft steht.

Allein mit diesem starken Bild gelingt Herheim eine Regie, die geradezu erschreckend konzis die gegenwärtige gesellschaftliche Stimmung einfängt. Wie überhitzt sie inzwischen ist, zeigte sich am Wochenende der Britten-Premiere: So hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor Anfeindungen russischstämmiger Mitbürger*innen gewarnt. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) warnte wiederum vor einem pauschalen Boykott russischer Kunst und Kultur. In Augsburg wurde tatsächlich zuletzt die Operette Moskau, Tscherjomuschki von Dmitri Schostakowitsch aus dem Spielplan verbannt.

Gewaltige Orchesterklänge

Dass die Münchner Regie von Peter Grimes so wirkungsvoll funktioniert, ist auch der Leitung von Edward Gardner zu verdanken. Aus dem Bayerischen Staatsorchester und dem Staatsopernchor entfesselt er eine geradezu körperliche Gewalt: ein starkes Hausdebüt.
Als Lehrerin und Grimes-Vertraute Ellen Orford gab zudem Rachel Willis-Sørensen ihr Rollendebüt. Als Grimes-Nebenbuhler und Doppelgänger Captain Balstrode brillierte Iain Paterson. (Marco Frei)

 

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