Ist es nicht ein bisschen bizarr: Indes die Kinder im Internet heute all das anschauen können, was garantiert nicht jugendfrei ist, beginnt man umgekehrt, Erwachsene wie Kinder zu umsorgen, indem man sie vor „sensiblen Inhalten“ warnt – auch wenn in Wirklichkeit ja nicht diese Inhalte sensibel sind, sondern mutmaßlich die Rezipient*innen. Aber wahrscheinlich stellt die neue Sitte, bei allen möglichen Gelegenheiten sogenannte Triggerwarnungen auszusprechen, einfach einen besonders hinterlistigen Werbetrick dar. Denn wer vor- und fürsorglich informiert wird, dass beispielsweise ein Film „die Gefühle mancher Personen“ verletzen könnte, wird dadurch natürlich erst neugierig.
Altbackene Pornofotos
Im Grunde haben wir es hier also bloß mit dem altbekannten „Ab-18-Effekt“ zu tun. Umso erstaunlicher, dass auch das Münchner Lenbachhaus diese aus den sozialen Medien in die analoge Realität geschwappte PR-Masche aufgreift. In seiner Ausstellung Was von 100 Tagen übrig blieb hängen vereinzelt Schildchen mit dem Hinweis: „Die Bilder in diesem Raum enthalten zum Teil verstörende Inhalte und könnten das Empfinden mancher Personen verletzen.“
Zu diesen Inhalten gehören offenbar altbackene Pornofotos in Schwarz-Weiß, die sich in Gerhard Richters riesigem Bildarchiv Atlas finden, einem der herausragenden Hauptwerke zeitgenössischer Kunst, die das Lenbachhaus besitzt. Allerdings muss man diese Schmuddelbildchen quasi mit der Lupe suchen in der Fülle Hunderter kleinformatiger Allerweltsfotos, aus denen der Atlas besteht; und wäre man nicht durch die Warnung getriggert worden, hätte man den Schweinkram von gestern auch leicht übersehen können.
Oder man hätte ihn einfach als das wahrgenommen, als was er in diesem gleichsam enzyklopädischen Riesenwerk Richters fungiert: als beliebigen Teil jener unübersehbaren Fülle von Bildern, die wie ein optischer Overkill unsere Wahrnehmung nivellieren. Indem durch den Warnhinweis nun die Pornofotos aus der Selbstverständlichkeit der Bildinflation herausgehoben werden, ist der eigentümliche banale Flow wertungsfreier Akkumulation sabotiert, die einen wesentlichen, fast schon gestischen Aspekt dieses Richter-Werkes darstellt.
Wir haben es hier also unversehens mit einem Akt des kuratorischen Ikonoklasmus zu tun, auch wenn er von den Ausstellungsmachern, die es sicher gut meinten, natürlich nicht beabsichtigt war. Zumal ihnen ansonsten eine sehr unterhaltsame Schau gelungen ist, indem sie die Bestände des Museums unter dem documenta-Aspekt durchforsteten. Das heißt, die Ausstellung zeigt diejenigen Arbeiten aus dem Besitz des Lenbachhauses, die einst auf einer der Kasseler „Weltkunstschauen“ zu sehen waren: entweder weil sie (wie Richters Atlas) als Leihgabe des Hauses dort gezeigt wurden oder – in den meisten Fällen – weil sie in den Besitz des Lenbachhauses kamen, nachdem die documenta sie als Wegmarken aktueller Kunstentwicklung nobilitiert hatte.
Von Joseph Beuys’ Bienenkönigin (1964 auf der documenta) bis zu Nevin Aladags abgründig-witzigen Musik-Möbeln (2017 in Kassel vertreten) sind da jede Menge echter Hochkaräter zu bewundern. Und über ein paar wenige Flops der Ankaufspolitik sei hier gnädig der Mantel des Schweigens gebreitet.
Hintergründige Texte
Besonders reizvoll ist auch die Konfrontation der Kunstwerke mit zeitgenössischen Presseartikeln und anderen Texten, die auf die jeweilige documenta reagierten. Darunter ein Brief oder eher ein Pamphlet, das die Künstlerin Charlotte Posenenske zur Ausstellung im Revoluzzer-Jahr 1968 verfasste und wo es heißt: „Da kommt Ihr also wieder mal zusammen und schwätzt und lügt und redet Scheiße um Eures Vorteils willen. Jeder hält sich und seinen Kram für bestechend, ohne zu merken, wie bestochen er ist.“ Bleibt nur zu hoffen, dass dieses Zitat nicht auf „manche Personen verstörend“ wirkt. (Alexander Altmann)
Information: Bis 11. Juni 2023. Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, Luisenstraße 33, 80333 München.
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