Kultur

Chefärztin Wolff (Lisa Wagner) steht am Pranger. (Foto: Birgit Hupfeld)

29.11.2024

Gelungene Transplantation eines Mobbingdramas

„Die Ärztin“ am Münchner Cuvilliéstheater

Eines vorweg: In Holland spielt dieses Stück sicher nicht. Sonst wären an den hohen Fenstern von Volker Thieles schrägem Guckkastenbühnenbild kaum so viele Lagen von Vorhänge angebracht, die ständig auf- und zugezogen werden. Sollen sie vielleicht andeuten, dass wir es mit einer Gardinenpredigt zu tun haben bei Robert Ickes Erfolgsstück Die Ärztin, das jetzt auch im Münchner Cuvilliéstheater des Bayerischen Staatsschauspiels angekommen ist? Der englische Autor adaptiert damit Arthur Schnitzlers Medizinerdrama Professor Bernhardi (1912), das quasi die k.-und-k.-Cancel-Culture schildert, die schon ohne Internet und soziale Medien funktionierte: Ein angesehener jüdischer Chefarzt wird beruflich und sozial demontiert, indem man ihm Behinderung der katholischen Religionsausübung vorwirft – was damals so schlimm war, wie heute der Vorwurf des Rassismus’.

Genau an diesem Symptom setzt Icke treffsicher an bei seiner Transplantation des Schnitzler-Stoffes in die Gegenwart: Weggemobbt wird jetzt die erfolgreiche Chefärztin Ruth Wolff, die man beschuldigt, einen Pater (Thomas Reisinger) diskriminiert zu haben, weil er ein Schwarzer ist.

Tricks durchschaut

Dabei wäre es doch so einfach gewesen: Frau Professor Wolff hätte nur in Anschlag bringen müssen, dass sie eine lesbische, jüdische Frau ist – schon wären ihre Widersacher dumm dagestanden als homophobe, sexistische Antisemiten, wobei Letzteres sogar wahr gewesen wäre.

Aber die renommierte Klinikchefin, Alzheimerforscherin und Nobelpreiskandidatin Wolff ist zu redlich für solche Tricksereien. Denn sie durchschaut, dass der identitätspolitische Opfer- und Minderheitenwettlauf nach dem Motto „der Diskriminierteste hat gewonnen“ eben gerade nicht emanzipatorisch ist. Sondern im Gegenteil nur als weiterer Hebel beim althergebrachten Kampf um Macht, Geld und Ansehen eingesetzt wird. Genau damit zementiert die vermeintlich progressive Political Correctness aber in Wirklichkeit die reaktionären Strukturen der Konkurrenzgesellschaft, das Prinzip von Hauen und Stechen, das die eigentliche Ungerechtigkeit darstellt.

So lautet (als Konzentrat) die akute Botschaft, mit der Icke die Vorlage infiziert hat. Und dass Regisseur Milo(s) Loli(´c) diese Geschichte vom Machtkampf im Medizinermilieu nicht auf den dekonstruktivistischen Seziertisch legt, sondern sehr traditionell-realistisch im Broadway-Stil herauspräpariert, bewirkt ein aufwühlendes Theatererlebnis. Vielleicht ein etwas zu aufwühlendes, weil das Publikum gezwungenermaßen mit der Heldin quasi mitfiebert bis der Arzt kommt – und vor lauter fremdbestimmten Gefühlswallungen die Distanz verlieren, die man für eine klare Diagnose braucht.

Einzig Sibylle Canonica als Lebenspartnerin der Professorin bringt einen zarten, wohltuenden Hauch von Verfremdung in das Stück, wenn sie wie eine innere Stimme oder das Gewissen der Heldin seltsam irreal durchs Geschehen geistert und die Szenen ansagt. Schön, dass in der Titelrolle Lisa Wagner als Gast wieder am Staatsschauspiel zu sehen ist.
Resümee: Operation (fast) gelungen, begeisterter Applaus. (Alexander Altmann)

 

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