Kultur

Weder ein Prachteinband noch goldschimmernde Illustrationen machen den Wert des Lorscher Arzneibuchs aus: Seine heruasragende Bedeutung steckt zwischen den Zeilen. (Foto: Staatsbibliothek Bamberg/Gerald Raab)

28.08.2014

Genialer Brückenschlag

Weltdokumentenerbe "Lorscher Arzneibuch": Wie Mönche die antike Heilkunde mit der christlichen Glaubenslehre unter einen Hut brachten

Benannt ist es nach einem hessischen Kloster, wo es auch geschrieben wurde, aufbewahrt wird das Lorscher Arz- neibuch aber in Bamberg. Dort wird am 2. September die Unesco-Urkunde überreicht, die es offiziell zum Weltdokumentenerbe macht – weil es ein Meilenstein in der europäischen Kultur- und Medizingeschichte ist. Zermantschte Weinbergschnecken gegen Kopfschmerzen, Ziegengalle gegen Hörschäden, in Wein aufgekochte Eidechse gegen Schwindsucht, mit Mäuseblut vermengter Vogelmist gegen Hühneraugen... Das klingt nach Harry Potters Unterricht im Zaubertränkebrauen – steht aber in einem seriösen medizinischem Lehrwerk: im Lorscher Arzneibuch.
Die meisten Rezepte darin klingen äußerst obskur – man mag sich gar nicht vorstellen, wieviele Patienten durch die wohlmeindenden Mittel erst recht krank wurden oder gar daran starben. „Es wirkt wunderbar!“, verheißt geradezu beschwörend der Zusatz in einem Rezept gegen Würmer bei Mensch und Pferd: Man solle Drachenwurz mit starkem Wein trinken, und zwar bei Mondschein. Das haut um! Und zwar nicht so sehr des Alkohols wegen: Drachenwurz ist hochgiftig! Vielleicht haben es die mönchischen Mediziner aber verstanden, das Mittel in so geringer Dosis zu verabreichen, dass es tatsächlich nur abführend wirkte?
Wissenschaftler der Uni Würzburg haben herausgefunden, dass das, was in dem rund 1200 Jahre alten Werk steht, nicht unbedingt gepanschter Humbug aus dem dunkelsten Mittelalter ist. Käseschimmel und Schafköttel: Das Gemisch könnte tatsächlich die Wirkung eines Antibiotikums entfalten. Und der Vogelmist enthält Gerbstoffe, die unter Umständen entzündungshemmend wirken können.

Gesundes vor der Haustür

In der Rezeptsammlung liest man auch von vielen Tinkturen, Salben, Pillen, Umschlägen und Einläufen, deren Bestandteile noch heute (im Zeichen der Homöopathie sogar mehr denn je) Verwendung finden: Thymian, Fenchel, Kümmel, Sellerie, Efeu, Johanniskraut. Vor allem: Das alles wächst in heimischen Fluren!
Das ist nämlich eine der Besonderheiten des Lorscher Arzneibuchs: Es postuliert, man brauche nicht unbedingt die exotischen, teuren Spezereien aus fernen Ländern, die sich meist nur die mittelalterliche Upperclass leisten konnte: „Seid (...) gegrüßt, ihr heiligen Berge und Felder der Heimat; denn eure Gaben taugen für viele Behandlungen“, heißt es im Buch.
Medizin, die sich (zumindest theoretisch) jedermann leisten kann – und diese Forderung aus einem der wichtigen Reichs- und Königsklöster: Auch wenn es der tatsächlichen Bedeutung des Arzneibuchs widerspricht, so könnte man populistisch aus heutigem Bewusstsein heraus und mit aktuellem Vokabular eine staatliche Gesundheitspolitik hineininterpretieren, geradezu ein christlich-soziales Manifest konstatieren, wenn man liest, was da über die Finanzierung steht. Ärzte werden gemahnt: „Schaut auch nicht darauf, welchen Lohn ihr in der jetzigen Welt, sondern welchen ihr in der zukünftigen empfangt. Denn selig werdet ihr sein, wenn ihr denen eure Pflege angedeihen lasst, die es offenkundig euch nicht entgelten können. Nichts dürft ihr von ihnen verlangen, wenn ihr Lohn finden wollt in der ewigen Ruhe, weil es ,seliger ist zu geben als zu nehmen’.“
Freilich waren die Verfasser des Buches Realisten genug und wussten, dass kein Arzt von Gottes Lohn allein auf Erden leben kann. Und so präzisierten sie ein paar Zeilen später: Der Arzt dürfe sich seine Heilkunst sehr wohl honorieren lassen, sollte aber die Rechnungen individuell anpassen: „Ist einer reich, möge es eine rechte Gelegenheit zum Gewinn sein, ist er arm, lass dich mit einer Winzigkeit abfinden.“ Ein bestimmtes Rezept wird als „undankbares Antidot“ (Gegenmittel) bezeichnet, und zwar deswegen: „Wenn du für dieses Heilmittel nicht im Voraus entlohnt wirst, sieh zu, dass du es keinem gibst: Viele haben es nämlich nur ein einziges Mal eingenommen und genasen  und deswegen ist es für die Ärzte ein undankbares Heilmittel.“ Deshalb wird auch der Patient in die Pflicht genommen: „Was du dem Arzt schuldest, gib es ihm, wenn du krank bist, damit dir nicht wieder Übles zustoße, noch einmal eilt keiner zu dir.“
Über 1200 Jahre alt sind diese Ausführungen – Paläografen und Medizinhistoriker datieren die Entstehung des Lorscher Arzneibuchs auf das Ende des 8. Jahrhunderts. Benannt ist es nach seinem Entstehungsort, der südhessischen Benediktinerabtei Lorsch. Die ist seit 1991 Unesco-Weltkulturerbestätte – und seit vergangenem Jahr steht das dort entstandene Arzneibuch im Unesco-Register „Memory of the World“ (dieses umfasst insgesamt 300 Einträge, darunter 17 aus Deutschland). Die entsprechende Urkunde wird am 2. September ausgehändigt. Und zwar der Staatsbibliothek Bamberg. Nicht, dass Lorsch einst zum fränkischen Territorium gehört hätte: Das Buch gelangte in den Besitz Kaiser Ottos III. und dann an seinen Nachfolger Heinrich II. Eine Besonderheit der Handschrift ist das auf einer halbleeren Seite eingetragene Bücherverzeichnis, das einzige bekannte (Teil-)Verzeichnis einer kaiserlichen Bibliothek des Frühmittelalters. Aufgelistet sind dort Handschriften, die für Kaiser Otto III. in Piacenza hinterlegt waren. Niedergeschrieben wurde dieser kleine Katalog von Leo von Vercelli, dem Lehrer und Vertrauten Ottos. Aus dem Erbe des jung im Jahr 1002 verstorbenen Kaisers gelangte der Kodex an Heinrich II., und der stiftete es seinem im Jahr 1007 gegründeten Bistum Bamberg. Bis zur Säkularisation stand es in der Dombibliothek – dann gelangte die Handschrift in Staatseigentum.
Übrigens: Bis in die 1980er Jahre hinein war die Handschrift, die in der Staatsbibliothek Bamberg die Signatur Msc.Med 1 trägt, als „Codex Bambergensis medicinalis 1“ bekannt. Den griffigeren Titel Lorscher Arzneibuch erhielt sie erst in den 1980er Jahren durch den Würzburger Medizinhistoriker Gundolf Keil. Ein großes Symposium im Jahr 1989, mehrere Publikationen und das frisch erwachte Interesse an Klostermedizin taten ihr Übriges, dass die Handschrift populär wurde.
Das Buch enthält zahlreiche Ergänzungen und Randbemerkungen: Sprach- und Schriftforschern sind dies Indizien für ihre Annahme, dass das Lehr- und Nachschlagewerk gut zwei Jahrhunderte lang in Gebrauch gewesen ist. Neben dem lateinischen Text finden sich als Besonderheit etliche eingesprengte althochdeutsche Worterklärungen des 9. und 10. Jahrhunderts, die für die germanistische Sprachwissenschaft von hoher Bedeutung sind, darunter die rheinfränkische Pflanzenbezeichnung „uuizeblouomen“ („Weißblume“) für „petriniola“, eine Kamillenart.
War das Lorscher Arzneibuch möglicherweise so etwas wie ein Standardwerk? Jedenfalls war es schon damals etwas Besonderes, sonst wäre es von Heinrich II. nicht als Geschenk für Bamberg ausersehen worden. Allerdings bietet die Handschrift, die auf Kalbspergament niedergeschrieben wurde, weder Illustrationen, noch wird sie von einem kostbaren Einband umhüllt. Sie präsentiert sich eher schlicht. Immerhin aber ist die verwendete karolingische Minuskel ein frühes, mustergültiges Beispiel für die Umsetzung dieser verordneten Normschrift.
Der eigentliche Wert der Handschrift liegt in ihrem Text. Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass die Unesco das Buch in das virtuelle „Gedächtnis der Menschheit“ aufgenommen hat. Die Handschrift stellt einen Meilenstein in der Medizingeschichte dar. Sie ist ein einzigartiges Zeugnis für die Neubewertung der antiken Medizin im Zuge der karolingischen Renaissance unter Karl dem Großen. Sie verbindet erstmals die Erkenntnisse der antiken, d. h griechisch-römischen Medizin mit christlichen Glaubensinhalten. Seither galt die Behandlung Kranker nicht mehr als unstatthafter Eingriff des Menschen in den Heilsplan Gottes, sondern als Akt christlich gebotener Nächstenliebe.
Geradezu genüsslich wird Gegnern dieser Überzeugung mit Zitaten aus der Bibel und aus theologischen Abhandlungen der Wind aus den Segeln genommen. Summa summarum: „Alle unsere Werke hast du gewirkt, Herr!“ (Jes. 36,12) Was in den programmatischen Texten, die der Rezeptsammlung vorausgeschickt werden, steht, ist beispielsweise schon bei Isidor von Sevilla (636 gestorben) zu lesen. Und der war ein renommierter Kirchenvater und Bibelexeget, der obendrein das zu seiner Zeit noch bekannte Wissen der Antike zusammengetragen hatte.
War es Verschleierungstaktik, um Gegnern von vorneherein keine Angriffsfläche zu bieten, wenn man bei der Bezeichnung für die fast 500 Mixturen oft das Göttliche bemühte? Da werden aufgeführt: Ein „göttliches Heilmittel“ vor allem gegen Magenschmerzen und Fieber, ein „Gottesgeschenk“ gegen Schlafglosigkeit, ein „Heiligmittel“ gegen alle Magenschmerzen. Dazwischen steht ein „Unsterblichkeits-Mittel“ bei allen „Schmerzen des Leibesinnern“.

Noch viel Forschung nötig

Eine Anmaßung? Oder ein Übersetzungsproblem? Hatten die Worte eine andere Bedeutung? In einem Rezept definieren die Schreiber selbst zum Beispiel „heilig“ als „altehrwürdig“. Nicht nur Sprachwissenschaftlern und Altphilologen bietet das Lorscher Arzneibuch noch eine Menge Stoff zur Forschung. Auch Medizinhistoriker im Verbund mit Botanikern könnten viele Fragezeichen klären helfen. Noch ist eine Vielzahl von aufgeführten Pflanzen nicht identifiziert. (Karin Dütsch) Digitalisat des Lorscher Arzneibuchs samt Übersetzung:
www.staatsbibliothek-bamberg.de Abbildungen (Fotos: Staatsbibliothek Bamberg/Gerald Raab):
Pergament war kostbar - um Fehlstellen schrieben die Mönche des Lorscher Skriptoriums einfach herum. Paläografen ist das Lorscher Arzneibuch ein wichtiges Dokument für die Umsetzung der "von oben" verordneten karolingischen Minuskel.

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