Kultur

Ausschnitt aus einer Fotografie, die die Sauerstoffbehandlung eines Gasverletzten vor dem Sanitätsunterstand der 1. Sanitätskompanie bei Sainte-Marie-à-Py zeigt. Die Gesamtansicht finden Sie im Beitrag. (Foto: Bayerisches Hauptstaatsarchiv/Kriegsarchiv)

12.10.2018

Getroffen – Gerettet – Gezeichnet

Eine Ausstellung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv über das Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg

Da täuschte sich der Kaiser gewaltig: „Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt“, rief Wilhelm II. im August 1914 ausrückenden Truppen zu. Jahrelang war im Deutschen Reich die Kriegswirtschaft hochgepuscht und hochgerüstet worden, der Militarismus hatte gesellschaftlichen Status quo. Doch aus einem Hauruck-Krieg wurde nichts: Der Erste Weltkrieg dauerte viereinhalb Jahre. Aus dem „Bewegungskrieg“ war binnen weniger Wochen ein zermürbender Stellungs- und Grabenkrieg geworden. Aber nicht nur die Dauer, vor allem die „Qualität“ des Krieges war es, die den Hurra-Patriotismus in ein schweres Massentrauma führte.
Die Zeit, sich tapfer mit Bajonett und Luger-Pistole Mann gegen Mann ins Gefecht zu stürzen, war vorbei. Schätzungen zufolge wurden nur 0,1 Prozent aller Soldaten mit bis dahin herkömmlichen Waffen verwundet (Enzyklopädie. Erster Weltkrieg. Paderborn, 2004). Was auf den Kriegsschauplätzen an neuer Waffentechnik eingesetzt wurde, hatte ungeahntes Vernichtungspotenzial. Das MG 08/15 feuerte bis zu 600 Mal pro Minute. „Ein Artillerist ist am Podex durchlöchert wie ein Sieb“, notierte der Chirurg Alfred Bauer, der im Feldlazarett bei Verdun Dienst tat. Beschuss durch schwere Artillerie und Granaten zwangen in die Schützengräben. Gegen Gasangriffe war man aber auch dort nicht gefeit. Wer sich raus traute oder raus musste, den empfingen Minen.

Katastrophale Bilanz

Zerfetzte, von Großkalibern durchschlagene, verstümmelte, von Seuchen malträtierte und psychisch kaputte Soldaten allerorten – an der Front ebenso wie zuhause. Man spricht vom ersten industrialisierten Krieg oder vom Maschinenkrieg – dem Jargon entsprechend liest man in der Bilanz: Rund 70 Millionen Menschen waren weltweit bewaffnet, am Ende gab es acht Millionen Kriegsgefangene, 15 Millionen Tote (davon 9,5 Millionen Soldaten), 20 Millionen schwer verwundete Menschen, acht Millionen Kriegsinvalide.
Die Angaben variieren nach Quellenlage, aber angesichts der ungeheuerlichen Größendimension ist Zahlenhuberei fehl am Platz. Die hier genannten Werte führt Margit Ksoll-Marcon, die Generaldirektorin der Staatlichen Archive Bayerns, in ihrem Geleitwort zum Katalog der gleichnamigen Ausstellung Getroffen – Gerettet – Gezeichnet. Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg an.
Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt von Bayerischem Hauptstaatsarchiv und Sanitätsakademie der Bundeswehr. Dokumente, Uniformen, medizinische Gerätschaften, Erinnerungsstücke und viele Fotografien fokussieren einen zentralen logistischen Aspekt der hochmodernen Kriegsmaschinerie, die 1914 in Gang gesetzt wurde: Was geschah mit den Opfern der Schlachtfelder? Wer kümmerte sich um sie – an der Front, auf dem Rettungsweg zurück und in der Heimat? Wie funktionierte das Sanitätswesen angesichts nicht einkalkulierter Anforderungen? Und zwar nicht nur hinsichtlich der Opferzahlen, sondern auch was Verletzungsbilder betrifft, die man bis dahin noch nicht kannte oder in schier kaum beherrschbarem Ausmaß zu behandeln hatte.
Dabei glaubte man sich wohl vorbereitet – zum Beispiel durch die Arbeit der 1895 gegründeten „Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen“ (KWA) in Berlin, wo fachwissenschaftlich geforscht wurde. Das galt vor allem der Infektiologie und der Kriegschirurgie. Es gab seit 1907 eine ausgeklügelte Kriegs-Sanitätsordnung (K.S.O.). Allerdings war auch die auf eine kurze Kriegsdauer ausgelegt.
In der Praxis zeigte sich bald, wie wenig die Militärmedizin von Verletzungen durch moderne Schusswaffen wusste. Das waren keine glatten Durchschüsse – die Geschosse hatten komplizierte Frakturen und Verwundungen zur Folge. Die Wunden waren voller Schmutz: Erdreich, Holzsplitter, Uniformfetzen und dergleichen sorgten für massive Infektionen. Da konnte der Soldat, der seinem getroffenen Kameraden als Erster zu Hilfe kam, nur wenig ausrichten: Mit den zwei Verbandspäckchen, die jeder laut K.S.O. bei sich trug, ließ sich oft nur ein „Trostpflaster“ anlegen.
Etwas mehr Glück hatte, wen Krankenträger schnell aus der Schusslinie zogen und in abgestufter Versorgungskette zum Verbandplatz, Hauptverbandplatz, Feldlazarett, Kriegslazarett, Reserve- beziehungsweise Vereinslazarett beförderten. Noch mehr Glück hatte, wer in den restlos überfüllten Hilfsstationen überhaupt eine Pritsche oder einen Strohsack unter einem Dach erwischte – selbst wenn das dann alte Kasernenstrohsäcke waren, „die vieleicht die Soldaten schon 20 Jahre hatten und darin so viel Mäuse, daß man sie gut erwischen und im Strohsak zertrüken könnte“, liest man in den Aufzeichnungen einer Krankenschwester vom Orden der Barmherzigen Schwestern.

Ärzte an ihren Grenzen

Die Ausstellung zitiert aus Aufzeichnungen von Patienten und jenen des medizinischen Personals. Chirurg Bauer notierte am 23. Mai 1916 bei Verdun: „ein Rückenmarkschuß und Schuß durchs Auge sterben ohne Operation, ein Gehirnschuß mit Erblindung wird operiert, ein Bauchdecken- und Beinschuß mit wahnsinniger Verschmutzung und miserablem Puls ebenfalls, desgleichen eine Zerschmetterung des Knöchels …“ Tags darauf: „so sind mir heute fast 1500 Mann durch die Hände gegangen.“
Beruflichen Ohnmachtsgefühlen haben sich die wenigsten hingegeben – notfalls „nahm ich lieber gleiche eine kleine Handvoll Aspirin- und Opiumtabletten auf einmal“, liest man vom Arzt und Schriftsteller Hans Carossa. In Aufzeichnungen von Feldpatienten wird die bis an ihre Grenzen gehende Aufopferung der Ärzte, des Pflegepersonals und der freiwilligen Helfer gewürdigt.

Zum Material degradiert

Später sollte gerne davon gesprochen werden, dass der Krieg für die Medizin eine Art Fortschrittsmotor gewesen sei. André Müllerschön und Ralf Vollmuth hinterfragen das in ihrem Katalogbeitrag. Viele militärmedizinisch nicht so relevante Krankheitsbilder, Methoden und Fachgebiete seien auf der Strecke geblieben. Außerdem waren mangels ärztlicher Erfahrung viele Soldaten schlicht „Versuchskaninchen“.
Die Autoren kritisieren eine „Entmenschlichung der ärztlichen Berufsauffassung und die Degradierung des Individuums zum reinen Objekt“. Sie zitieren den Chef des Feld-Sanitätswesens im Ersten Weltkrieg, Otto von Schjerning: „Nicht weniger hat die Konstitutionspathologie aus dem Material dieses Krieges ihren Nutzen ziehen können. Wohl noch nie konnte eine so große Zahl im kräftigsten Mannesalter stehender und aus völliger Gesundheit durch Verwundung plötzlich verstorbener Personen anatomisch untersucht werden.“
Trotz der ungeheuren Todeszahlen: Viele Soldaten verdankten ihr Überleben tatsächlich Verbesserungen bei medizinischen Verfahren (zum Beispiel bei der Bluttransfusion, Impfungen) und neuen Gerätschaften (mobile Röntgengeräte). Die Orthopädie ebenso wie die Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie entstanden als eigenständige Disziplin.
Seit 1916 war der Schädel zwar durch den Stahlhelm besser geschützt, doch nicht das Gesicht. „Man kann den ganzen Vorderteil des Gesichtes ersetzen“, zitiert der Ausstellungskatalog August Bier, einen das Militär beratenden Berliner Chirurgen. „Diejenigen aber, die mit Schädelschüssen durchkommen, werden zu 90 % ein klägliches Leben führen, es sind überhaupt die schlimmsten Krüppel, die existieren, schlimmer als wenn 2 Beine und 1 Arm verloren sind. Die Leute werden nachher ein körperlich, geistiges und sozial unglückliches Leben führen.“

Kriegskrüppel in den Straßen

Hunderttausende Kriegskrüppel und Kriegszitterer hatten schwer gezeichnet den Krieg überlebt und erinnerten im Straßenbild lange an den verheerenden Krieg. Die neue „Krüppelfürsorge“ und ab 1920 das Reichsversorgungsgesetz hatten zum Ziel, den Versehrten eine Zukunft als Almosenempfänger zu ersparen. Schon ab September 1915 gab es einen wöchentlich verbreiteten „Bayerischen Stellennachweis für Kriegsinvalide“. Prothesen sollten ihnen Fortbewegung und Handgriffe, vor allem das Arbeiten ermöglichen. Für die kaputten Psychen fehlten meist therapeutische Lösungen – oder waren schmerzhaft und entwürdigend.
Doch was für die „Helden des Kriegs“ alles erdacht war, blieb in der Realität oft erfolglos – frustriert als doppelte Verlierer des Kriegs gingen sie bald auf die Straßen und protestierten. 1929 scheiterte die Liste „Kriegsbeschädigte“ bei der Münchner Stadtratswahl. Die mangelnde gesellschaftliche Würdigung der „Kriegsopfer“ bot schließlich den Nationalsozialisten eine Steilvorlage – die höhere Einheitsrente als „Ehrensold“ blieb allerdings Propaganda. (Karin Dütsch)

Information: 18. Oktober bis 18. November. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Ludwigstraße 14, 90762 München. So. bis Fr. 10-18 Uhr. www.gda.bayern.de

Katalog „Getroffen – Gerettet – Gezeichnet. Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg“, 195 Seiten, 20 Euro. Zu beziehen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Postfach 22 11 52, 80501 München.

Abbildungen:
Kompakt geordnet in einer Holzkiste befand sich das „Hauptbesteck“ für die chirurgische Behandlung im Feld.
Sauerstoffbehandlung eines Gasverletzten vor dem Sanitätsunterstand der 1. Sanitätskompanie bei Sainte-Marie-à-Py.
Die Armbinde gehörte dem Feldgeistlichen Pater Rupert Mayer SJ.
Der Kriegsversehrte zeichnet mit der linken Hand, der rechte Arm fehlt. Eine Kinnstütze soll seine Körperhaltung entlasten.
(Fotos: Bayerisches Hauptstaatsarchiv/Kriegsarchiv, Bayerisches Armeemuseum Ingolstadt, Sanitätsakademie der Bundeswehr)

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