Kultur

Hans Magnus Enzensberger starb am 24. November im Alter von 93 Jahren. (Foto: dpa/Andreas Gebert)

28.11.2022

Global Player des Geistes

Ein Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger: Sein Leben wurde selbst zu einer Art Kunstwerk

einen wie ihn werden wir so schnell kein zweites Mal bekommen: Einen derart heiteren Aufklärer, der unprätentiöse Überlegenheitsgesten mit koketter Bescheidenheit verband, einen Autor, der für mehr als ein halbes Jahrhundert das literarische Leben im In- und Ausland entscheidend mitgeprägt hat. Nein, man kann sich die deutsche Literatur ohne Hans Magnus Enzensberger kaum vorstellen.

Dieser Intellektuelle par excellence war vieles in einem: der weltweit „vernetzte“ Kosmopolit und Global Player des Geistes, der in Norwegen, Berlin, Rom, USA und schließlich jahrzehntelang in München lebte; der Herausgeber der Anderen Bibliothek oder legendärer Zeitschriften wie Kursbuch und TransAtlantik; die vermeintliche Leitfigur der Studentenrevolte anno '68, von der er sich indes bald distanzierte; der einstige Erntehelfer in Castros Kuba, der 2003 doch Amerikas Irakkrieg guthieß - und so fort.

Im Rückblick wirken all diese biografischen Details fast wie Puzzlesteine einer absichtslosen Legendenbildung, so als sei Hans Magnus Enzensberger eine Figur, die er selbst erfunden hat. Nicht etwa weil „HME“ ein kalkuliertes Image, eine Marke gewesen wäre, sondern weil diesem Autor ganz beiläufig etwas gelang oder vielmehr geschah, was man selten, aber doch immer wieder bei Geistesgrößen beobachtet: Ihr Leben wird ungewollt selbst zu einer Art Kunstwerk, weil es exemplarische Züge annimmt - gerade dort, wo es so individuell von der Durchschnittsexistenz abweicht.

Frühe Neigung zum Widerspruch

Geboren 1929 als Sohn eines Postbeamten in Kaufbeuren, wuchs Hans Magnus Enzensberger in Nürnberg auf. (Fernab der Mikrofone klang das noch durch, wenn er einem ein fröhliches „Adee“ zurief.) Dass er bereits aus der Hitlerjugend wegen Renitenz rausgeworfen wurde, zeigt, wie früh seine Neigung zum Widerspruch ausgeprägt war.

Dementsprechend nonkonformistisch in Form wie Inhalt war dann auch der aufsehenerregende Start dieser Schriftstellerkarriere: Der Durchbruch gelang Enzensberger gleich mit seinem ersten Gedichtband Verteidigung der Wölfe:  Ein zeitlos faszinierendes Buch, das bei seinem Erscheinen 1957 als skandalös empfunden wurde, etwa weil der „zornige junge Mann“ darin allen Lohnabhängigen zurief: „ihr,/einladend zur vergewaltigung,/werft euch aufs faule bett/des gehorsams, winselnd noch/lügt ihr, zerrissen/wollt ihr werden, ihr/ändert die welt nicht.“

Der internationale Ruhm dieses Vor- und Meisterdenkers gründete sich aber vor allem auf seine Essays – Texte, die Themen oft erst ins Spiel brachten. So als er 1970 dem Fernsehen attestierte, es steuere das Bewusstsein der Massen. Oder bereits 1957 mit einem Aufsatz im Spiegel, wo er den Sprachstil eben dieses Nachrichtenmagazins sezierte und als verkappten Revolverblatt-Journalismus erkannte, der unter der Tarnung „kritischer“ Posen doch nur die herrschende Ideologie verbreitet.

Wer gängige Klischeevorstellungen so hellsichtig demontiert, für den gilt notwendig Brechts Diktum „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. Für Parteigängereien und starre Meinungen war Enzensberger viel zu klug und beweglich.

Enzensbergers Lyrik: Sanftes Schaukeln der Sätze

Und Beweglichkeit im Wortsinne ist es auch, was den bedeutendsten Teil seines Schaffens prägt, das, was als Spur von seinen „Erdentagen nicht in Äonen untergehen“ wird: seine Lyrik. Enzensbergers Gedichte faszinieren durch das sanfte Schaukeln der Sätze, jenen aufgeweckten, aber doch manchmal wohlig einlullenden Sound der Dialektik, der im Pendelschlag der Verse die Bewegung des Denkens nachzeichnet. In dieser Dichtung prallt der Durchblickertonfall des Einser-Abiturienten auf die  zarte Melancholie, mit der etwa „die Schnee-/flocke auf dem flaumigen Arm einer Frau“ besungen wird. In der lyrischen Verschränkung von Übertrumpfungsattitüde und Verletzlichkeitskonfession inszenierte dieser Autor das Drama der Aufrichtigkeit in der kalten Welt der Konkurrenz. Darum sprechen seine Gedichte immer ganz unmittelbar von uns, selbst wo sie bloß von Luft und Wolken handeln.

Am 24. November ist Hans Magnus Enzensberger 93-jährig in München gestorben.  (Alexander Altmann)

 

 

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