Tosender Stehbeifall in der restlos ausverkauften Philharmonie in Berlin: Ein deutlicheres Zeichen der Solidarität lässt sich nicht denken. Allein die Tatsache, dass es kurzfristig am Montag zu diesem Gastspiel der Münchner Philharmoniker mit ihrem designierten Chefdirigenten Lahav Shani beim Musikfest Berlin gekommen ist, war ein kraftvolles Ausrufezeichen und eine organisatorische Meisterleistung.
Nur wenige Tage zuvor waren Shani und die Münchner vom Flanders Festival im belgischen Gent ausgeladen worden. Hier hätten sie am 18. September auftreten sollen. Das Musikfest Berlin ist spontan eingesprungen, binnen weniger Stunden waren sämtliche Karten ausverkauft. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) reagierte und hat Shani in Berlin offiziell empfangen.
Von Boykottaufrufen beeinflusst
Was war geschehen? Es geht um Shani, seine Herkunft und die aktuellen, abgründigen Ereignisse im Gazastreifen. Der in Tel Aviv geborene 36-Jährige ist israelischer Jude und seit 2020 Chefdirigent des Israel Philharmonic Orchestra. Das Festival in Gent sah Shani „nicht in der Lage, für die nötige Klarheit über seine Haltung dem genozidalen Regime in Tel Aviv gegenüber zu sorgen“, so die offizielle Erklärung. Man habe sich entschieden, die „Ruhe unseres Festivals zu wahren und das Konzerterlebnis für Besucher und Musiker zu schützen“.
Zuvor hatten Aktivisten in Gent zum Boykott aufgerufen, auch mit Stickern, die auf die Konzertplakate geklebt wurden. Die Festivalleitung ist also vor dem Mob eingeknickt, die offizielle Begründung geradezu hanebüchen, denn: Shani ist längst als Unterstützer für Frieden und Austausch bekannt, gerade auch im Nahostkonflikt. Er hat sich nicht nur in Zeitungsartikeln eindeutig geäußert, sondern: Als Zögling von Daniel Barenboim arbeitet Shani mit dessen West-Eastern Divan Orchestra. In diesem Klangkörper musizieren palästinensische und israelische Jungtalente gemeinsam.
Das weiß zwar auch die Festivalleitung in Gent, trotzdem hat sie Shani ein Ultimatum gestellt. Er solle sich schriftlich zum „Völkermord durch Israel“ bekennen.
Auf den ersten Blick erinnert das an den Fall Valery Gergiev: Nach dem Beginn des großflächigen Angriffs Russlands auf die Ukraine Ende Februar 2022 sollte sich der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker gegen Wladimir Putin und den Krieg aussprechen. Als die Frist ablief, wurde er fristlos entlassen. Die beiden Fälle lassen sich indes nicht miteinander vergleichen, denn: Schon vor Gergievs Münchner Amtsantritt 2015 war klar, dass er ganz auf Linie seines Freundes Putin ist. Die Annexion der Krim hatte er 2014 unterstützt und 2013 homophobe Gesetzgebungen in Russland relativiert.
Der Fall Shani ist eindeutig Diskriminierung, umso größer der Aufschrei. Selbst der belgische Premier Bart De Wever kritisierte die Ausladung mit scharfen Worten. Auch aus der deutschen und bayerischen Politik hagelte es Kritik.
Der Fall Shani markiert gewiss eine neue Qualität von Cancel Culture, ist aber kein Einzelfall. Nach dem Ausbruch des großflächigen Ukraine-Krieges mussten sich Kunstschaffende aus Russland klar positionieren oder sie wurden gleich pauschal ausgeladen. Selbst manche Musikwettbewerbe in der EU hatten junge Teilnehmende aus Russland ausgeschlossen, ohne dass die internationale Politik reagiert hätte.
Dass jetzt in Gent die Intendanz vor Protesten einknickte, auch das ist nicht neu: In München gab es 2022 zwei international kontrovers diskutierte Beispiele. Am Gärtnerplatztheater sorgte die Premiere der Oper Jonny spielt auf von Ernst Krenek für Proteste, weil mit Blackfacing gearbeitet wurde. Das wurde zwar in der Regie kritisch kontextualisiert, aber: Die protestierenden Schauspielstudenten hatten die Produktion gar nicht gesehen.
Stücke vom Spielplan genommen
Am Münchner Metropoltheater sorgte wiederum eine Neuproduktion des preisgekrönten Nahost-Dramas Vögel von Wajdi Mouawad für massive Proteste. Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) und der Verband jüdischer Studenten in Bayern (VJSB) sahen in dem Stück antisemitische Tendenzen, obwohl es vom israelischen Staat gefördert und ausgezeichnet wurde. In beiden Fällen haben die Theaterleitungen die Stücke vom Spielplan genommen.
Es steht derzeit nicht gut um das freiheitlich-demokratische Kunstverständnis. Seit der Pandemie mit ihren teils überstrengen Kulturauflagen ist etwas grundsätzlich aus dem Lot. Leider ist gegenwärtig weit und breit kein kraftvolles Korrektiv zu erkennen, das unabhängig vom jeweiligen Fall und der eigenen Meinung die Freiheit der Kunst hochhält; auch nicht im „Kulturstaat Bayern“. Die jetzigen Reaktionen aus der Politik sind insofern scheinheilig. (Marco Frei)
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