Kultur

Famos verkörpert Jakob Immervoll den Skinhead Gote: rechtsradikal, und doch berührend. Im Hintergrund Maral Keshavarz als Dora. (Foto: Gabriela Neeb)

28.01.2022

Liebe in Zeiten der Pandemie

Christian Stückls gelungene Bühnenfassung von Juli Zehs „Über Menschen“ am Münchner Volkstheater

Als dieses Buch von Juli Zeh im Frühjahr 2021 veröffentlicht wird, gilt Über Menschen prompt als erster Roman über den Corona-Lockdown. Das ist natürlich nicht richtig. Zwar werden aktuelle Fragestellungen angerissen, aber was die Pandemie mit der Gesellschaft macht und welche Auswirkungen sie haben wird, das ist noch nicht klar. Dazu muss die Pandemie erst einmal vollständig überwunden sein. Der Roman ist das, was der Werktitel formuliert: ein Buch über Menschen. Hierzu lauscht die 47-Jährige dort tief hinein, wo sie selbst seit 2007 lebt: in das dörfliche Leben in Brandenburg, abseits der Metropole Berlin, am gefühlten Ende der Welt.

Aus dem rund 400 Seiten zählenden Beststeller hat Christian Stückl für das Münchner Volkstheater eine Bühnenfassung destilliert und inszeniert. Das ist gewagt, aber bei der Uraufführung hat das prächtig geklappt. Warum? Weil Stückl wie Zeh mit allen handelnden Personen liebevoll umgeht. Zwar begegnet er ihnen mit viel witzig-ironischer Distanz, wertet sie jedoch nie ab. Auf diese Weise sind schon Zeh kleine Wunder geglückt. Das setzt sich in der Bühnenfassung von Stückl fort.

Der menschliche Dorf-Nazi

Dafür steht beispielhaft die Figur des Gote. Schon zur Wende-Zeit Anfang der 1990er-Jahre beteiligt er sich an den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock. In Bracken im Landkreis Prignitz ist Gote der „Dorf-Nazi“. In den Ort hat es wiederum Dora verschlagen. Die großstädtische Leere Berlins inmitten des ersten Corona-Lockdowns hält sie genauso wenig aus wie den rechthaberischen „Cancel-Culture-Duktus“ ihres Partners Robert. Sie wählt grün, ist Bio-Öko-Veganerin und ein „Gutmensch“. Mit Nazis und AfD-Wähler*innen hat Dora beträchtliche Probleme. Aber in Bracken lernt sie schnell, dass sich auch dahinter allzu Menschliches verbirgt. Bald verlieben sich der rechte Gote und die linke Dora ineinander.

Gote hat eine Tochter: Franzi. Bei Stückl und in der Ausstattung von Stefan Hageneier wirkt sie wie ein frech-skurriler, aufgedrehter Pippi-Langstrumpf-Verschnitt. Zu ihr findet Dora schnell Kontakt: nicht zuletzt dank ihrer Hündin, die ganz lebendig über die Bühne hechelt.

Die Bühne von Hageneier ist minimalistisch entworfen. Auf einer großen grauen Betonplatte stehen vor allem ein paar Klapp-stühle herum. Nichts lenkt von dem dörflichen Sozial-Kaleidoskop ab, das Stückl in kammerspielartiger Reduktion zeichnet.

Aus der Ich-Perspektive der Buchvorlage wird ein echtes Mehrpersonenstück. Das gelingt auch deswegen ganz famos, weil durchwegs großartig gespielt wird. Da sind Tom (Steffen Link) und Steffen (Julian Gutmann): Sie geben ein herrlich absurdes, pseudo-intellektuelles Öko-Schwulenpärchen in sackartigen Strickpullovern ab. Ihr trockener Humor passt zu ihrem Knäckebrot-Müsli-Duktus. Sie wetteifern mit der AfD-Wählerin Sadie (Pola Jane O’Mara) um die besten Sprüche. Das Schwulenpaar freundet sich auch mit Dora an. Vom homophoben Gote hält es sich fern. Anne Stein spielt Gotes Tochter Franzi mit irrwitziger Mimik und Gestik. Die Figur des Robert hat Stückl ausgebaut. In der Darstellung von Max Poerting wirkt seine „Cancel-Culture-Ideologie“ paranoid.

Wenn es hier eine Hauptfigur gibt, dann ist es nicht so sehr die Dora von Maral Keshavarz, sondern Jakob Immervoll als Gote. Mit unglaublicher Körperlichkeit lässt er den Skinhead unendlich zerbrechlich und sinnlich wirken. Er ist ein Einzelgänger und sehnt sich vor allem nach Liebe. Für seine Tochter ist er „der beste Papa der Welt“. Eine tödliche Diagnose beendet die Hoffnung auf Liebe, die zwischen ihm und Dora aufkeimt. Er bringt sich um. Dieser rechtsradikale Gote berührt zutiefst.

Was zunächst irritiert, ist genau die Stärke von Zeh und Stückl. Beide schaffen es aufzuzeigen, wie sehr es sich lohnt, gesellschaftliche Spaltungen aufzubrechen – gerade jetzt, inmitten der Pandemie. (Marco Frei)

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