Kultur

Zu Beginn der Ausstellung erhält man anhand einer Reliefprojektion einen Überblick über 100 Jahre Geländegeschichte. (Foto: Christian Sperber)

11.06.2021

Neue Gelassenheit

In seiner Interimsausstellung hat das Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände vor allem die jüngere Generation im Blick

Die Bezeichnung Interimsausstellung für die neue Schau ist treffend gewählt. Genau diesen Übergang von alter und neuer Vergangenheitsbewältigung versucht das Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände mit einer – umbaubedingten – Interimsausstellung in der Großen Halle auszuloten.

Der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers wandert langsam über das topografische Relief des Reichsparteitagsgeländes. Plötzlich bleibt das Licht auf der vertikalen Projektionsfläche stehen. Fotos und Zahlen ziehen filmisch wie Schattenbilder aus der Vergangenheit vorbei: von den Anfängen am Dutzendteich im Jahr 1906 mit Jubiläumsparty zum bayerischen Kronjubiläum bis in die Jetztzeit mit Rockkonzert und Autorennen.

Virtueller Parteitag

Dazwischen liegen zwölf prägende Jahre, die 2001 zur Gründung des Dokumentationszentrums als Museum zur Stärkung der Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung geführt haben. Genau 20 Jahre später wird der Ausstellungsort in der 1935 begonnenen und 1941 kriegsbedingt unvollendet gebliebenen Kongresshalle für über 15 Millionen Euro aufwendig renoviert. Während der Umbauphase bis 2023 wird in der Großen Halle eine Interimsausstellung gezeigt, die zum ersten Mal die Geschichte rund um das Reichsparteitagsgelände von den Anfängen bis heute insbesondere aus lokalgeschichtlicher Perspektive und anhand zahlreicher Zeitzeugenberichte aus vielen verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Die Besucher*innen können sogar selbst an einem Parteitag teilnehmen und virtuell verfolgen, wie begeisterte Braunhemden jüdische Kinder liebevoll wohl aus Unwissenheit auf den Arm nehmen.

Neben der Epoche der völkischen Gemeinschaft und rassistischen Ausgrenzung zwischen 1933 und 1939 nimmt die neue Ausstellung auch die Zeiträume davor und danach bewusst in den Blick.

„Es gibt in der Erinnerungskultur eine signifikante Veränderung“, begründet der Leiter des Dokumentationszentrums, Florian Dierl, den erweiterten Zuschnitt auf die museale Präsentation der nationalsozialistischen Zeit. Die junge Generation habe zur Geschichte des Reichsparteitagsgeländes sowie zur Geschichte des Nationalsozialismus eine nüchterne, gelassenere und bisweilen sogar ironische Haltung, meint Dierl.

Diese Sichtweise stehe in krassem Kontrast zum Umgang der (Alt-)68er-Generation mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die sich an der Schuld der Deutschen am und den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg regelrecht abgearbeitet hätte.

Die neue Gelassenheit bedeutet für Dierl keine „Banalisierung der bösen Geschichte“, sondern müsse vielmehr als Ausdruck eines gefestigten demokratischen Bewusstseins verstanden werden. Selbst der Aufstieg des (Rechts-)Populismus könne daran nichts ändern. Die Geschichte des Reichsparteitagsgeländes könne heute nicht mehr auf das Klischee der marschierenden Horden reduziert werden.
Die Geschichte des Geländes müsse farbig und vielfältig und nicht schwarz-weiß erzählt werden. Auch die mittlerweile fast 80-jährige und sich Tag für Tag ausdehnende Nachkriegsgeschichte habe den Ort nachhaltig geprägt. Diese jüngste Vergangenheit sei der jüngeren Generation logischerweise viel präsenter. „Das müssen wir mit im Kopf haben, wenn wir die Geschichte vernünftig erzählen wollen“, sagt Dierl.

Das Warum erklären

Der Leiter des Zentrums betont, dass den jungen Besucher*innen heute verstärkt vermittelt werden müsste, warum die Mehrheit der Deutschen den Nationalsozialismus aus voller Überzeugung und mit ganzem Herzen unterstützt habe. Die Nazis hätten in Nürnberg eben gerade keine Massen verführen, sondern nur auf bekannte Quotenbringer wie Volksfestatmosphäre setzen müssen. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus und die zögerliche Abkehr selbst nach der verheerenden Kriegsniederlage seien zwei Seiten einer Medaille. Nicht von ungefähr ist Nürnberg wohl erst 2001 für ein Dokumentationszentrum bereit gewesen.

Die Ausstellung verschweigt auch nicht, wie stolz sich Nürnberg einst als Schauplatz der Massenveranstaltung gebrüstet hat und deshalb sogar besonders früh und besonders radikal eine Vorbildfunktion in der „Judenfrage“ beispielsweise mit dem Abriss der Synagoge in der Altstadt sowie Boykottaufrufen und Enteignungen eingenommen hat.

Mit der Interimsausstellung wagt das Dokumentationszentrum den Versuch, den Blick auf die Reichsparteitage zu erweitern und die eigene Geschichte nicht nur im verengten Spiegelbild der zwölf NS-Jahre isoliert zu betrachten. Während zeitlich ein großer Bogen gezogen wird, rückt inhaltlich das Lokale mithilfe von Zeitzeugenberichten und zahlreichen Objekten wie Glasscherben aus während der Kristallnacht zerstörten Bauten in den Vordergrund.

Eigenständig kritisieren

Die Stimmenvielfalt und Perspektiverweiterung soll das heutige Ausstellungspublikum einladen, sich ein eigenes Bild der Geschichte zu machen – wobei der verbrecherische Zeitgeist speziell der Jahre zwischen 1933 und 1945 niemals aus dem Blick gerät. Es wird nicht wie beim Frontalunterricht mit erhobenem Zeigefinger erklärt, wie zum Beispiel die Massenpropaganda funktioniert hat. Man muss sich selbst einen Weg durch die Geschichte bahnen und wird zu eigenständiger Kritik angeleitet. Der kaleidoskopartige Blick könnte einen Weg in eine moderne Geschichtsvermittlung weisen, hofft Dierl.

Gleichzeitig erteilt er Versuchen eine Absage, die fatale NS-Geschichte nachträglich quasi noch einmal besiegen zu wollen, indem beispielsweise alte Nazi-Bauwerke dem Erdboden gleichgemacht werden. Auch andere vermeintlich wohlwollende Aktionen zur moralischen Selbstinszenierung wie die kürzlich in Nürnberg tatsächlich erfolgte Bemalung der Zeppelintribüne in bunten Regenbogenfarben hält Florian Dierl für absurd, wenn man die Geschichte ernst nehmen und nicht nachträglich verneinen oder gar vergessen machen wolle.

Die Interimsausstellung kommt für Nürnberg zur rechten (Zwischen-)Zeit: Nach der missglückten Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt stand schon die Frage im Raum, ob beispielsweise die marode Zeppelintribüne überhaupt mit vielen Millionen Euro saniert und damit für die Zukunft gerettet werden solle. Auch darauf gibt die Ausstellung indirekt Antwort. In der Großen Halle flackern Filmbilder der amerikanischen Siegesparade mit der Sprengung des Hakenkreuzes neben Hitlers Rednerkanzel. Florian Dierl dagegen plädiert dafür, auf die Sprengung der Geschichte zu verzichten. Ein gewaltsames Umschreiben des Geschehenen ist selbst aus edlen Motiven einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eher abträglich. (Nikolas Pelke)

Information: Die Interimsausstellung ist bis zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung voraussichtlich Ende 2023 zu sehen. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Bayernstraße 110, 90478 Nürnberg. Aktuelle Öffnungszeiten unter www.museen.nuernberg.de/dokuzentrum

 

 

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