Vor 100 Jahren entstand die Neue Sammlung. Für Deutschlands erstes staatliche Designmuseum und mit seinen rund 120 000 Objektnummern weltweit größte Museum seiner Art überhaupt ist es ein willkommener Anlass, den Geburtstag mit der Ausstellung „100 Jahre – 100 Objekte“ dort zu feiern, wo es seit 2002 zusammen mit dem Architekturmuseum, der Graphischen Sammlung und den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen untergebracht ist: in der Pinakothek der Moderne.
Ursprünglich ging es um Gewerbekunst
Industrialisierung und Urbanisierung führten seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Transformation aller Lebensbereiche. Gegen den Verlust handwerklicher und künstlerischer Qualität durch industriell hergestellte Massenware wandte sich in England die Arts-and-Crafts-Bewegung, die auch die Reformbewegungen in Deutschland wie den Deutschen Werkbund beeinflusste.
Die Neue Sammlung, die heute von Angelika Nollert geleitet wird, kann als Kind des 1907 ins Leben gerufenen „Deutschen Werkbundes“ gelten. Dessen geistiger Vater, der Berliner Architekt und Autor Hermann Muthesius, wollte die Lebenswelt „vom Sofakissen bis zum Städtebau“ künstlerisch veredeln. Ursprünglich firmierte die am 21. Mai 1925 gegründete Neue Sammlung als Abteilung für Gewerbekunst im westlichen Seitenflügel des Neubaus des Bayerischen Nationalmuseums, wo heute die Sammlung Bollert beheimatet ist. Programmatisch und ab 1929 auch Namensgeber war die Eröffnungsschau mit dem Titel Die Neue Sammlung, die 1926 im Bayerischen Nationalmuseum gezeigt wurde.
Zum Grundstock der heutigen Sammlung gehört eine der frühesten Erwerbungen: Josef Hoffmanns Briefkasten, hergestellt von der von ihm 1903 mitbegründeten Wiener Werkstätte. Das durch seine Gitterstruktur filigrane Designobjekt wurde bereits 1913 vom Münchner Bund, vormals Münchner Vereinigung für angewandte Kunst, angekauft, um die Sammlung Moderne Vorbilder zu schaffen.
Die sich am Puls der Zeit orientierende Erwerbspolitik der Neuen Sammlung führte zu Direkteinkäufen auf internationalen Messen, bei Designerinnen und Designern sowie von Ausbildungsstätten wie dem Bauhaus und der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein. Im Laufe der Zeit kamen zahlreiche Schenkungen, Nachlässe und Ankäufe aus dem Kunsthandel hinzu.
In der halbtrichterförmigen Aula werden jetzt, entlang der unten beginnenden Führungslinie, neben den bekannten Ikonen, wie beispielsweise dem Freischwinger MR 20 des Bauhauskünstlers Mies van der Rohe von 1927, jenem so oft nachgeahmten Sitzmöbel aus verchromtem und verschraubtem Stahlrohr und lederner Sitzfläche, oder der biomorph anmutenden Zitronenpresse, 1988 von Philippe Starck entworfen, auch weniger bekannte Objekte gezeigt. Darunter der streng geometrisch gemusterte und gewebte, textile Wandbehang von 1926 der Bauhausmeisterin Gunta Stölzl sowie die von der Bildhauerin und Wackerle-Schülerin Ruth Schaumann-Fuchs gestaltete Bronzemadonna von 1925, die den Auftakt des Ausstellungsparcours macht.
Indem das Kuratorenteam die Exponate nicht in traditionell chronologischer Reihenfolge ihrer Entstehungszeit präsentiert, sondern sie nach der Chronologie zeigt, wann sie vom Haus erworben wurden, lenkt sie indirekt auch den Blick auf die Erwerbspolitik und Präferenzen der einzelnen Direktoren. So wurde beispielsweise das älteste Exponat von circa 1867, das Sideboard von Edward William Godwin, erst 1993, in der Ära des zehnten Direktors, des Kunsthistorikers Florian Hufnagel, erworben. Es datiert noch in die Zeit des mit Ornamenten schwülstig überbordeten Historismus und besticht umso mehr in seiner radikal einfachen Schlichtheit sowie strengen geometrischen Grundform.
Möbelkunst vom Feinsten
Zur Möbelkunst vom Feinsten gehört auch der 1898 mit ästhetischer Raffinesse des Jugendstils gearbeiteten Hochschrank aus dem Hause des einflussreichen Münchner Verlegers und ab 1933 Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Museums, Hugo Bruckmann. Das Relikt modernen großbürgerlichen Wohnens ruft das rege Salonleben von Ehefrau Elsa in Erinnerung. Das zu einem Ensemble gehörende Möbelstück war der erste Auftrag auf dem europäischen Kontinent des Briten Charles Rennie Mackintosh, der nicht zuletzt unter dem Einfluss der Arts- and-Crafts-Bewegung die Abkehr vom Historismus noch im viktorianischen Zeitalter vollzogen hatte.
Bereits in der Ära Hans Wichmanns, Hufnagels Vorgänger, wurde die ästhetische Kunstrichtung des Jugendstils wiederentdeckt, was unter anderem auch zum Erwerb von Teilen von Hector Guimards Pariser Metrostation Bolivar führte.
Lagen die ersten Sammlungsschwerpunkte nicht zuletzt auch aus Platzgründen auf seriellen und kunsthandwerklichen Erzeugnissen wie Objekten aus Glas, Keramik, und Metall, Möbeln, Textilien, Flechtarbeiten sowie Verpackungen, Plakaten und Büchern, rückten in der Wirtschaftswunderzeit nach dem Krieg auch technische Geräte, wie Fernseher, Schlagbohrer und elektrische Küchengeräte in den Fokus der Sammeltätigkeit. Durch die erste Museumsausstellung der Fotokünstler Bernd und Hilla Becher 1967 entwickelte sich zudem die Industriefotografie zum Sammlungsgegenstand. In Abkehr vom Bauhausideal erweiterte revolutionäres Anti-Design mit ironischer Brechung von Alchimia und Memphis in den 1990er-Jahren die Bestände ebenso wie Autorenschmuck und DDR-Design.
Künstlerinnen prominent eingebunden
Im Zeitalter künstlicher Intelligenz und Neuzugängen wie Fairphones, Robotern und Rennrollstühlen lässt einen die jüngste Erwerbung staunen: Das Tradition und Moderne ebenso wie Kunst und Design amalgamierende, monumentale Werk aus Bronze und Keramik stammt von der afrikanischen Künstlerin Zizipho Poswa. Es erinnert an antike Grabkunst und Vorratsgefäße der alten Griechen und spiegelt die leuchtenden Farben Afrikas.
Erworben wurde der Eyecatcher vor dem als Markenzeichen der Neuen Sammlung bewährten großen Setzkasten, mithilfe von Herzog Franz von Bayern und dem Förderverein PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne. Es ist von den Ausstellungsmachern ein gelungener Schachzug, die bis dato in der Designkunst unterrepräsentierten Protagonistinnen an prominenter Stelle am Anfang und am Ende der international bestückten Designschau geschickt einzubinden.
Übrigens: Als Zugabe wird es im Sommer eine digitale Begleitausstellung geben, die in Kooperation mit dem Deutschen Museum entsteht, das ebenfalls in diesem Jahr 100. Geburtstag feiert. Einen Teil ihrer digitalen Sammlung präsentiert Die Neue Sammlung aber schon jetzt. Im Museum oder daheim lassen sich per App oder Mausklick 1117 Designobjekte der Sammlung online erkunden. (A. Irgens-Defregger)
Bis 30. Mai 2027. Die Neue Sammlung, Barer Straße 40, 80333 München. Täglich 10 bis 18 Uhr, donnerstags 10 bis 20 Uhr, montags geschlossen.
www.die-neue-sammlung.de
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!