Kultur

Bedrohlichen Zauber versprüht die Meerhexe (Oliver Stokowski): Sie wird der kleinen Meerjungfrau (Isabell Antonia Höckel) den Fischschwanz abhacken, damit sie eine „Landfrau“ werden kann. Sie ist im Prinzip das Alter Ego des Dichters Hans Christian Andersen (Moritz Treuenfels). (Foto: Sandra Then)

24.11.2023

Psychogramm eines Dichters

Beglückendes Theaterevent über ein Märchen voller Unglück: das Musikstück „Andersens Erzählungen“ am Münchner Residenztheater

In einer Kutsche ist er unterwegs, der dänische Dichter Hans Christian Andersen. Ein langer, dünner Mann in Frack und Zylinder. Ihm gegenüber eine kleine, etwas merkwürdige Gestalt mit grünlichem Gesicht und zerzaustem aschblondem Haar. Es ist das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, eine der Figuren aus den Kunstmärchen des Dichters (1805 bis 1875). Dieser Andersen, den Moritz Treuenfels spielt, unterhält sich selbstverständlich mit dem Mädchen – und führt doch im Grunde ein ewiges Selbstgespräch.

Das Musiktheaterstück Andersens Erzählungen von Jherek Bischoff, Jan Dvo(r)ák und Philipp Stölzl, das am Residenztheater Premiere hatte, ist die dritte Regiearbeit von Philipp Stölzl an diesem Haus (nach Das Vermächtnis von Matthew Lopez und James Brown trug Lockenwickler von Yasmina Reza). Und spielte er bereits beim Reza-Stück mit den Grenzen zwischen Realität und Phantasie, so lösen sich diese Grenzen hier immer mehr auf. Grandios verschränkt und verknüpft er das Leben des Dichters mit seinem Werk, fächert auf, wie Andersen die Tragik seines Daseins in seine Märchen überführte. Man könnte auch sagen: sich in diese rettete vor der grauen und grausamen Wirklichkeit.

Nicht erwiderte Liebe

Die Kutsche bringt Andersen an die dänische Nordseeküste, ins Haus der Familie Collin, die ihn als jungen Waisen aufgenommen hatte. Edvard, der Sohn, wird am nächsten Tag seine Verlobte Henriette heiraten – obwohl Andersen ihn doch mehr liebt als alles andere. Auf dem Weg beginnt er, dem Mädchen mit den Schwefelhölzern die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau zu erzählen: die Geschichte von einem Wesen, das in seiner Welt nicht glücklich werden kann, sich sehnt nach dem Unerreichbaren und für seinen Traum von der Liebe alles auf eine Karte setzt.

Andersen hat dieses Märchen tatsächlich geschrieben, als der historische Edvard Collin heiratete, die unglücklich liebende Meerjungfrau ist sein Alter Ego. Wie er lebt sie in einer Welt, in der sie nicht glücklich werden kann, weil sie anders ist als die anderen. Es ist vielleicht das traurigste Märchen aller Zeiten. An diesem Abend verknüpft Stölzl es genial mit den realen Vorgängen, die sich immer wieder in der Märchenhandlung spiegeln, von ihr zugleich kommentiert und vorangetrieben werden.

Denn Henriette ist die Einzige, die im puritanischen Haushalt der Collins Sinn für die Poesie des ungebetenen Gastes Andersen hat. Sie treibt ihn an, weiterzuerzählen. Er eröffnet ihr eine Welt, die sie nicht kannte: eine, in der es nicht um Vernunft geht, sondern um Gefühl, nicht um Beherrschung, sondern um Leidenschaft. Es ist kein Wunder, dass sie nach einer Nacht voller Märchen ihre eigene Hochzeit als kein bisschen märchenhaft mehr empfindet: „Ich habe etwas gesehen“, sagt sie ernüchtert. „Ich habe eine Liebe gesehen, aber es war nicht meine.“ Zwischen ihr, Andersen und Edvard entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht, für das es ebensowenig Hoffnung gibt wie für die kleine Meerjungfrau. Hier überkreuzen und überlagern sich die Gefühle, über allem liegen die Zwänge einer Gesellschaft, die für derartige Spinnereien keinen Sinn hat.

Vernunft schlägt Traum

Cathrin Störmer erklärt als Edvards Mutter ihrer künftigen Schwiegertochter großartig abgeklärt, dass ihr eigener Mann ihr ebenfalls unsympathisch war, die Hochzeitsnacht wie die Flitterwochen furchtbar gewesen seien: „Aber seitdem – geht es.“ Dieses „geht es“ ist das Höchste der Gefühle, mehr zu erwarten Flausen in einer Realität, in der junge Frauen vor allem von einem Mann versorgt werden müssen. Vernunft schlägt Traum.

Linda Blümchen spielt als Henriette gekonnt den Bogen von Überschwang zu Ernüchterung, geht durch alle Gefühlszustände von Neugier, Sehnsucht, Erkenntnis und Resignation. Thomas Lettow zeichnet den Edvard als einen, der sich seiner Gefühle ebenfalls nicht ganz sicher ist, sich ihnen aber lieber nicht stellt. Oliver Stokowski ist der strenge Vater, darf aber auch in einem fulminanten Kostüm mit Korallen auf dem Kopf (Kostüme: Kathi Maurer) die grausame Meerhexe spielen, die der Meerjungfrau ihren Traum vom Menschsein erfüllt.
Im Zentrum von allem steht Moritz Treuenfels, der den Menschen Andersen mit jeder Faser seines Körpers lebendig werden lässt: dessen Hoffnung, sein Charisma, seine Zerrissenheit und seine Verlorenheit.

Die kleine Meerjungfrau schwebt anfangs durch eine phantastische Unterwasserwelt, die Philipp Stölzl und Heike Vollmer samt tanzender Quallen und leuchtender Fische auf die Bühne gezaubert haben. Isabell Antonia Höckel spielt das Mädchen, das seinen Blick immer wieder nach oben, Richtung Wasseroberfläche, schweifen lässt und seiner Sehnsucht in zarten Gesängen Ausdruck verleiht.

Das Orchester unter der Leitung von Stephen Delaney sorgt für die passenden Klangwelten der Märchenwelt. Als aus der Meerjungfrau eine Landfrau wird, ihr recht brutal von der Meerhexe der Flossenschwanz amputiert wird, übernimmt die Tänzerin Pauline Briguet alternierend mit Anima Henn die Rolle. Das Mehrspartenkonzept trägt kongenial das Märchen: Ihre bezaubernde Stimme hat die Meerjungfrau verkauft, an Land kann sie sich allein durch ihre Körpersprache – den Tanz – ausdrücken.

Dieser Theaterabend ist im wahrsten Sinne des Wortes phantastisch, wenn auch für Kinder nur bedingt geeignet. Großartig, wie die Märchenfiguren vom Zinnsoldaten bis zum nackten Kaiser in die Wirklichkeit einbrechen, wie die verschiedenen Ebenen sich nahtlos ineinanderfügen. Keine glückliche Geschichte ist dies, aber ein beglückender Abend. (Anne Fritsch)

 

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