Kultur

Großartig spielt André Jung den Mann, der seine Frau Anne bis zum Ende begleitet. (Foto: Matthias Horn)

27.10.2023

Seelisch zerfranst

„Liebe (Amour)“ und die Hinfälligkeit allen Lebens an den Münchner Kammerspielen

Wie blütenweiß sie sind, die Kleider der Pflegekräfte und die Wände des Korridors, der sich perspektivisch nach hinten verengt – ohne dass Licht am Ende des Tunnels erkennbar wäre. Aber ach, die sterile Reinheit hält nicht lange, denn schwarzer Schleim tropft von der Decke herab und rinnt unaufhörlich aus den Wänden: Es ist gleichsam der Tran des Todes, der sinternde Sirup der Fäulnis, der alles besudelt in Karin Henkels Inszenierung von Liebe (Amour) – einer Theateradaption von Michael Hanekes gleichnamigem oscargekrönten Film (2012), die an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte.

Dabei kann das Leben so schön sein mit seinen Klavierkonzerten und Landschaftsbildern. So wie das Leben von Georges und Anne eben, einem älteren Ehepaar aus dem Bildungsbürgertum, von dem in Liebe erzählt wird. Doch mit einem Schlag ist alles anders für die beiden, genau gesagt mit einem Schlaganfall von Anne, der das Dasein des Paares aus kultivierten Höhen in die Niederungen des bloß Körperlichen reißt.

Die Krankheit als Reduzierung geistbegabter Lebewesen auf einen Klumpen stinkender Materie ist eine Demütigung. Eine metaphysische Kränkung und Beschämung, die nur schlimmer wird durch die unterbezahlte Lieblosigkeit professioneller Zyniker*innen, die als Hilfs- und Pflegepersonal notgedrungen tun, was in der Konkurrenzgesellschaft üblich ist: Wo einer wehrlos wird, stoßen die Geier zu (herrlich tragikomisch: Christian Löber, Joyce Sanhá).

Weil das Theater mit dem Naturalismus des Filmes weder konkurrieren kann noch soll, setzt die Regisseurin folgerichtig aufs Gegenteil: auf Künstlichkeit und Verfremdung. Dabei gelingen surreale Bilder, die, bei aller Liebe, noch bizarrer und absurder hätten ausfallen müssen, aber den Zustand einer seelisch zerfransten Existenz doch vergegenwärtigen.

Bedrohliche Sinnlosigkeit

So etwa in einer der optisch stärksten Szenen, wenn unvermittelt die Decke aufklappt und eine ganze Kipperladung Erde oder Torfmull fast lautlos auf den Bühnenboden rauscht. Oder wenn der Ordnungsrahmen des Korridors irgendwann wegbricht und das offene Bühnenhaus samt sichtbarer Technik nur noch eine chaotische Ansammlung von Objekten darstellt. Objekten, die, vom Klavier bis zum Erdhaufen, keinen Zusammenhang haben und keinen geschlossenen Sinn mehr ergeben, aber so eben atmosphärisch unmittelbar eine bedrohliche Auflösung, Zersplitterung und Orientierungslosigkeit erfahrbar machen. Ähnlich wie der Kunstgriff, Anne von verschiedenen Personen verschiedenen Alters im grünen Bademantel darstellen zu lassen – einschließlich eines Kindes.

Wo Hanekes Film die Schrecken der Pflegebedürftigkeit ausstellt und mit einer Reflexion über selbstbestimmtes Sterben verbindet, rückt Henkels Inszenierung stärker die Variationen über das barocke Vanitas-Thema in den Vordergrund und malt ein sehr zeitgenössisches Panorama der Hinfälligkeit allen Fleisches. „Leben ist sterben, da gibt’s nichts zu beschönigen; es riecht auch danach, das Leben“, sagt Georges einmal. Der großartige André Jung, ein Meister konzentriert-verinnerlichten Ausdrucks, macht in dieser Rolle denkbar, dass es aus Liebe geschieht, wenn Georges seine lebensmüde Frau am Ende mit dem Kissen erstickt. (Alexander Altmann)

 

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