Manchmal schließen sich Kreise. Was zunächst wie parallel verlaufende Lebensentwürfe wirkt, ergibt später ein konzises Ganzes. Alles greift sinnstiftend ineinander, erfährt ungeahnten Sinn. So war das jetzt auf der Tournee des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BR) mit seinem Chefdirigenten Simon Rattle durch Westeuropa. Der Auftakt führte nach England mit den ersten zwei Stationen Liverpool und Birmingham.
Dieser Tourneeauftakt war im Grunde ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk für Rattle, der heuer 70 Jahre alt geworden ist. Denn: In Liverpool ist Rattle geboren und aufgewachsen. Seine erste große Stelle als Dirigent war wiederum das City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO), wo er von 1980 bis 1998 wirkte, bevor er zu den Berliner Philharmonikern wechselte. Beide Städte sind in Rattles Leben eng verbunden, und eine Linie führt auch zu seiner aktuellen Wirkungsstätte in München.
Lieber Beethoven als die Beatles
Ein Rückblick, Liverpool vor 54 Jahren: In der Philharmonie der Stadt an der Westküste Englands erlebt der 16-jährige Rattle ein Konzert der BR-Symphoniker unter ihrem damaligen Chefdirigenten Rafael Kubelík. Auf dem Programm steht die Neunte von Ludwig van Beethoven. „Es war einer von den unvergesslichen Abenden. Ich kann mich erinnern, wo ich saß.“ Er habe nie einen Dirigenten und ein Orchester in solch einer Art „symbiotischen Beziehung“ erlebt. „Diese Nähe: Das wollte ich auch einmal erreichen. Ich wusste nicht genau, wann das eintreffen sollte. Und hier sind wir nun, mit diesem unglaublich wunderbaren Orchester.“
Das sagte Rattle öffentlich beim BR-Gastspiel in der Philharmonie seiner Geburtsstadt zum Publikum vor der Zugabe. Der Tourneeauftakt in Liverpool berührte ihn sichtlich. Wer durch Rattles Liverpool schlendert, wandelt zugleich auf den Spuren der Band The Beatles. Dafür steht allein die Menlove Avenue. In dieser Allee, Hausnummer 13, steht das Elternhaus von Rattle. Im Haus mit der Nummer 251 ist wiederum John Lennon bei seiner Tante Mimi aufgewachsen. Einem populären Sampler-Album hatte Lennon den Titel Menlove Ave. gegeben. Eine andere Straße, die durch ein Lied der Beatles berühmt geworden ist, heißt Penny Lane. Hier befindet sich das Liverpool College, das Rattle einst besucht hatte. War Rattle also ein Fan dieser Band? „Als Kind habe ich gar nicht Kenntnis davon genommen“, räumt er auf Nachfrage ein.
Erst in London, nicht zuletzt durch Gespräche mit Komponisten, habe er sich mit den Beatles beschäftigt. Sie wären zwar nicht seine „erste Wahl beim abendlichen Hören“, aber: „Sie sind fraglos gute Musiker. Ich habe das als Kind verpasst. Ich habe ein Stück Geschichte verpasst.“
Er sei eben „an so vielen anderen Dingen interessiert“ gewesen, so Rattle weiter, und das verrät allein sein Werdegang. Sein Vater war Jazzpianist, die Mutter hatte einen Plattenladen, die Schwester arbeitete als Bibliothekarin. Sie war Autistin, kümmerte sich intensiv um ihren jüngeren Bruder und schleppte Partituren nach Hause, die der jüngere Bruder eifrig studierte: von Arnold Schönberg, William Walton oder Béla Bartók.
Als Kind lernt Rattle zunächst Schlagzeug, später Klavier und für einige Jahre auch Geige. Im Merseyside Youth Orchestra wird er 1966 Schlagzeuger und knüpft Verbindungen, die bis heute halten. Da ist Edward Smith: Er managt das Jugendorchester und holt als CBSO-Geschäftsführer später Rattle nach Birmingham. Im Merseyside Youth Orchestra streicht zudem Sandra Parr die Bratsche. Sie ist vier Jahre jünger als Rattle und ist schräg gegenüber von seinem Elternhaus aufgewachsen.
Die BR-Gastspiele als „Familienangelegenheit“
Heute wirkt Parr als künstlerische Planungsdirektorin der Royal Liverpool Philharmonic. Bei den Philharmonikern in Liverpool debütiert Rattle 1970 als Schlagzeuger, um dort schließlich von 1977 bis 1980 als Associated Conductor zu wirken. So ist es nur konsequent, dass Rattle die BR-Gastspiele in Liverpool und Birmingham eine „Familienangelegenheit“ nennt.
Sie wirken bis nach München nach, und dafür steht nicht zuletzt Harry Atkinson. Der 26-jährige Kontrabassist stammt aus Birmingham und ist jetzt bei den BR-Symphonikern im Probejahr. Seine Eltern kamen ihrerseits vor 40 Jahren zum CBSO-Orchester in Birmingham, als Rattle dort als Chefdirigent wirkte.
Beim Gastspiel in Birmingham waren auch Atkinsons Eltern dabei und viele Schulfreunde. „Das war sehr besonders für mich. Ich habe schon Monate davor an dieses Konzert gedacht.“ Es schließen sich eben ganz natürlich Kreise, und auch das macht die Liaison zwischen Rattle und dem BR so besonders.
(Marco Frei)
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