Kultur

Wird von ihrem Vater sexuell missbraucht: Vera-Lotte Boecker als Nadja Albrecht und Bo Skovhus als Werner Albrecht in der Oper "Bluthaus". (Foto: Wilfried Hösl)

27.05.2022

Tiefste Dunkelheit und grelles Licht

Die Opern „Bluthaus“ und „Thomas“ von Georg Friedrich Haas bleiben eindrucksvolle Hör- und Seherlebnisse

Sie sitzt in einem Verhörraum. Ein stummer Polizeibeamter scheint aus ihr herauspressen zu wollen, was konkret geschehen ist in ihrem Elternhaus. Doch sie schweigt, sagt nichts. Stattdessen hebt Gesang an. Von einem „Reich des unerbittlichen Gottes“ singt Amor. „Gehe nicht weiter, Mutter, setze nicht deinen schönen Fuß ins dunkle Reich.“ Die Mutter ist Venus. Ihre „leuchten Augen“ mache „die Hölle rein und hell“, singt König-Vater Pluto. Er selbst schickt die „undankbaren Seelen“ zurück ins „Höllenreich“. Zurück ins „dunkle Kloster“, dorthin, wo „eure Verbrechen euch führen“. Von einem „grausamen Urteil“ und „noch grausameren Qualen“ singen die „undankbaren“, unglückseligen Frauen selber.

Das sind die Worte aus dem Ballo delle ingrate (Tanz der undankbaren Frauen) von Claudio Monteverdi aus dem Jahr 1608. Wie ein Prolog steht dieses halbszenische Madrigal im Münchner Cuvilliés-Theater am Beginn der Oper Bluthaus von Georg Friedrich Haas, einer Koproduktion der Bayerischen Staatsoper mit dem Münchner Residenztheater und der Oper Lyon, die beim neuen Festival „Ja, Mai“ Premiere hatte. Wenn das Festival der Bayerischen Staatsoper fortan frühes und zeitgenössisches Musiktheater pflegen möchte, so ist diese direkte Verzahnung schlicht genial. Denn in diesem Madrigal von Monteverdi wird das Kommende im Grunde bereits ausgesprochen.

Die Frau, die in der Inszenierung von Claus Guth in einem Verhörraum sitzt, ist Nadja Albrecht (stimmlich und darstellerisch überragend: Vera-Lotte Boe-cker). Nach diesem Prolog wird in der Bühne von Etienne Pluss aus dem Verhörzimmer Nadjas Elternhaus. Sie möchte es verkaufen – mitsamt den Erinnerungen und Erlebnissen darin.

Ihr Elternhaus ist ein Bluthaus, ein Schlachtfeld in mehrfacher Hinsicht. Was diese junge Frau dort erleiden und erleben musste, ist unaussprechlich. Ihr Vater Werner Albrecht (diabolisch: Bo Skovhus) hat sie sexuell missbraucht. Es ist ein abgründiges – beinahe „klassisches“ – Drama, das sich in dieser Familienhölle offenbar abgespielt hat.

Die Mutter Natascha Albrecht (mit fesselnder Hilflosigkeit: Nicola Beller Carbone) ist zu ängstlich und schwach, um ihre Tochter zu schützen. Um von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken, redet sie sich damit heraus, dass ihre Tochter undankbar sei. Auch in der Nachbarschaft gilt das Verhalten der missbrauchten Tochter als Zeichen der Undankbarkeit. Die Eltern hätten sie ja nur geliebt.

Stimmen im Geisterhaus

Warum die Vergangenheitsform? Weil die Eltern kürzlich verstorben sind. Offenbar hat Nadja ihren Vater erstochen. Die Mutter könnte sich auch selbst gerichtet haben. In diesem Geisterhaus hört Nadja die Stimmen ihrer toten Eltern. Das macht es für den Makler Axel Freund (Hagen Matzeit) nicht gerade einfacher, das Haus zu verkaufen. Bis auf die drei Söhne des Witwers Franz Maleta aus Südafrika, gesungen von drei Solisten des Tölzer Knabenchors, sind die Interessent*innen wie auch die Nachbarschaft der Albrechts von großartigen Schauspielerinnen und Schauspielern des Residenztheaters besetzt.

Das alles lebt von der bestechend konzisen Regie Claus Guths, den durchwegs exzellenten Leistungen aller Ausübenden und dem unter der Leitung von Titus Engel hellhörig musizierenden Bayerischen Staatsorchester. Ob die Renaissance von Monteverdi oder der mikrotonale Spektralismus des Österreichers Haas: Das Orchester lebt sich stilsicher in die jeweiligen Profile ein, um ein erstaunlich organisch wirkendes Ganzes zu erschaffen.

Am Ende sitzt Nadja wieder im Verhörraum. Sie muss erkennen, dass es echte Liebe für sie nicht geben kann und wird: nur in Verbindung mit Schmerz. Aus der Hölle ihrer Kindheit und Jugend findet sie nicht heraus, obwohl sie es doch so sehr gewollt und versucht hat. „Es geht nicht mehr“, singt Nadja. In dieser Tragik gleicht sie der Nymphe aus dem Lamento della ninfa von Monteverdi, das als Epilog unmittelbar auf die Oper von Haas folgt. Ein Mädchen tritt aus ihrem Haus. Auf ihrem bleichen Gesicht zeichnet sich ihr Schmerz ab, es hebt dieses Madrigal von 1601 an. „Wo ist die Treue, die der Verräter mir schwor?“, klagt das Mädchen. „Mach, dass meine Liebe zurückkehrt, wie sie einst war, oder töte mich, damit ich mich nicht weiter quäle.“

Herzzerreißende Trauer

Nach diesen Worten bleibt man vollends sprachlos zurück, weil die Kombination Monteverdi-Haas geradezu erschreckend passgenau funktioniert.
Das gilt auch für die zweite große Opernpremiere Thomas von Haas in der Münchner Utopia-Reithalle. Wie Bluthaus ist auch dieses Werk Teil einer Opern-Trias nach Libretti von Händl Klaus. Sie wurde in den vergangenen zehn Jahren in Schwetzingen uraufgeführt. Auch Koma sollte beim aktuellen Festival „Ja, Mai“ Premiere haben, was allerdings wegen des Ukraine-Krieges auf 2024 verschoben wurde.

In Thomas trauert die Titelfigur (herzzerreißend intensiv: Holger Falk) um seinen geliebten Freund Matthias (Konstantin Krimmel). Zu Beginn der Oper hört man seine letzten Atemzüge. Man erlebt, wie der Atem von Matthias langsamer wird und es in der Lunge tödlich rasselt. Das Ärzteteam um den bizarren Dr. Dürer (Rupert Enticknap) stellt mit routiniert-mechanischer Kälte den Tod fest. Mit viel Empathie versucht Pfleger Michael (wunderbar sonor: Randall Scotting) dem verzweifelt trauernden Thomas zu helfen, was ihm nur schwer gelingt. Das ist vor allem den skurrilen Schwestern Agnes (Yajie Zhang) und Jasmin (Jessica Niles) geschuldet, die den Toten waschen. Auch die Sensibilität der durchgeknallten Bestattungsberaterin Fink (herrlich überdreht: Hélène Fauchère) hält sich in Grenzen.

Dieses Szenario lässt Regisseurin Anna-Sophie Mahler in einem aseptisch-reduziert wirkenden Raum spielen. Für die Bühnenmitte hat Ausstatterin Katrin Connan ein großes, kokonartiges Gebilde entworfen. In ihm sitzt das von Alexandre Bloch dirigierte, packend aufspielende Münchener Kammerorchester (MKO). Die großflächigen, mikrotonal gebrochenen Klänge kommen aus dem Inneren dieses Gebildes.

Tragik und Komik

Das Staatsorchester ist zunächst nicht zu sehen. Erst als Michael dem trauernden Thomas eine Suppe bringt, um diese gemeinsam mit ihm in Andenken an Matthias zu essen, öffnet sich unversehens der Kokon. Grelles Licht strahlt in den Raum. Es erklingt das berühmte Lamento d’Arianna von Monteverdi. „Lass mich sterben“, fleht Ariadne – es könnte auch Matthias sein, den Thomas nicht loslassen kann und will. Seine Trauer changiert zwischen Wut und Verzweiflung, Klage und Anklage, Tragik und Komik. Wer selbst einen lieben Menschen verloren hat, weiß von diesem stillen Drama.

In seiner erschütternd authentischen Ausgestaltung präsentiert sich Holger Falk genauso als überragender Sängerdarsteller wie Vera-Lotte Boecker als Nadja in Bluthaus. Bleibende Hör- und Sehmomente wurden da geschenkt. Dieses Mai-Festival der Staatsoper ist ein starker Wurf. (Marco Frei)

Abbildung:
Zwischen Diesseits und Jenseits: In der Titelpartie der Oper Thomas von Georg Friedrich Haas trauert Holger Falk (rechts) um seinen verstorbenen geliebten Freund Matthias (Konstantin Krimmel).    (Foto: Wilfried Hösl)

 

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