Kultur

Die Familienidylle trügt: Frau John (Julia Bartolome) hat ein heimlich gekauftes Kind ihrem Mann (Daniel Scholz) untergeschoben. (Foto: Marion Bührle)

10.03.2017

Überfrachteter Klamauk

Sascha Hawemann inszeniert Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" am Nürnberger Staatsschauspiel als effekthascherische Sozialgroteske

Das „Bürgerliche Trauerspiel“, duldet noch bis Ende des 19. Jahrhunderts nur die gehobenen Stände auf der Bühne. Gerhart Hauptmann (1846 bis 1946) verlängerte es in seinen sozialdramatischen Stücken ins Prekariat, ins Milieu der sozial Abgehängten hinein und provozierte mit seinem „Proletarischen Trauerspiel“ nicht nur den deutschen Kaiser, sondern die ganze wilhelminische Gesellschaft. Das hat er in seiner Tragikomödie Die Ratten (1911 in Berlin uraufgeführt) in Gestalt des abgehalfterten Theaterdirektors Hassenreuter sogar thematisiert: Der Klassenkampf hatte im zeitgenössischen Theater, dem die aufkommende vermeintliche Moderne den Kampf angesagt hatte, nichts zu suchen. Die soziale Wirklichkeit wurde in diesem gestrigen Theater ausgeblendet.

Brisantes so nebenbei

Aber dieses spannende Kapitel spielt Sascha Hawemann in seiner Inszenierung des Stücks am Nürnberger Staatsschauspiel zur Klamauk befrachteten Nebenhandlung herunter. Es bleibt bei einer zwar bildgewaltigen, aber letztlich effekthascherischen Sozialgroteske, die das Berliner Mietskasernen-Milieu im Stile eines sozialromantischen Zille-Milljöhs ausstellt. Zwar zieht der Regisseur alle Register der Bühnentechnik, lässt eine Guckkastenbühne auffahren (Theater im Theater), während auf der echten Bühne die Wände aus Packpapier immer wieder ein- und aufreißen, um symbolträchtig hinter den dünnen Kulissen der bürgerlichen Gesellschaft die sozialen Abgründe sichtbar zu machen (Bühnenbild Wolf Gutjahr). Entsprechend schrill und bizarr ist das Figurenarsenal dieser „Gesellschaft vom Dachboden“, wo Hauptmann seine Ratten ansiedelt und wo die Menschen wie Ungeziefer unter Ratten und Mäusen hausen. Dort bringt auch das polnische Dienstmädchen Pauline (Josephine Köhler) ihr uneheliches Kind zur Welt, das sie in ihrer Not für 120 Mark der Frau John verkauft, die es ihrem Mann als eigenes Kind unterschieben will. Julia Bartolome spielt, nein überbrüllt im angestrengten Dauerton ihre Frau John mit dramatischer, aber nicht immer stimmiger Wucht. Ihren schrägen, ganzkörpertätowierten Bruder Bruno stilisiert Stefan Willi Wang augenrollend zum Klischee des gewalttätigen Losers, wohingegen Daniel Scholz Herrn John als gutgläubig-einfältigen Ehemann einer Familienidylle nachhängen lässt, die in solch einem drastisch überzeichneten Sozialmilieu keine Chance hat.
Nicola Lembach brilliert variantenreich in mehreren Rollen: als sich ständig verhaspelnde Theaterdirektorsgattin; als kindsmörderische Mutter und als angestrengt talentlose Schauspielerin, die öfter auf dem Schoß des Theaterdirektors als auf der Bühne landet. Stefan Lorch gibt diesen als schmierigen Prinzipal mit donnerndem Theaterpathos („Oh Straßburg!“), womit die Inszenierung auch ihren offensichtlichen Tribut an Tschechow („Nach Moskau“) und Thomas Bernhard („Morgen Augsburg“) entrichtet hat.

Buh für die Regie

Darstellerischer Lichtblick in diesem Figurentheaterkabinett ist das Schauspieler-Duo Philipp Weigand und Julian Keck, die – in mehreren Rollen – dem comichaften Bilderbogen einen Hauch surreal anmutender Beckett’scher Absurdität verleihen.
Aber diese stilleren, überzeugenderen Szenen, in denen Gags und Slapstick Pause haben, sind rar in diesem überfrachteten Rattennest, das sich offenbar den erstaunten Ausruf des verhinderten Theaterdirektors zum Motto genommen hat: „Erfinden Sie mal so was!“ Dem pflichtete das hin- und hergerissene Publikum mit Applaus für die Schauspieler und Buhs für die Regie bei. (Fridrich J. Bröder)

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