Kultur

Sascha Tuxhorn als Professor in „Die Unterrichtsstunde“. (Foto: Konrad Fersterer)

05.10.2018

Universum des Absurden

Ionesco, Tschechow und eine Uraufführung: Premierentrio am Nürnberger Staatsschauspiel

Mit einem Premierentrio startete die Schauspielsparte des Staatstheaters Nürnberg unter dem neuen Intendanten Jens-Daniel Herzog in die neue Saison. Spartenchef Jan Philipp Gloger sorgte für einen großartigen Auftakt, indem er für einen Ionesco-Abend Regie führte.

Lügenpresse, Fake News, alternative Fakten – all diese hasserfüllten Kommunikationen des 21. Jahrhunderts webt Jan Philipp Gloger in seinen Ionesco-Abend Ein Stein fing Feuer, in dem Die kahle Sängerin, Die Unterrichtsstunde und andere Texte des Meisters des absurden Theaters verarbeitet sind.
Gloger entfaltet ein Universum des Absurden, wie es dem Altmeister des gleichnamigen Theatergenres bestens gefallen hätte. Gleichzeitig zeigt Gloger, wie aktuell die Stücke von Eugène Ionesco gerade in der Zeit von Social Media und gezielter Desinformation sind. Denn Ionesco meinte einmal: „Wer sich an das Absurde gewöhnt, findet sich unserer Zeit gut zurecht!“
Wie wahr, möchte man meinen angesichts des seltsamen Zusammentreffens der beiden Ehepaare Schmidt (köstlich in ihrem Schwadronieren über Nichtigkeiten: Julia Bartolome und Sascha Tuxhorn) und Martin (herrliches Wiedererkennen der Eheleute, die vergessen hatten, dass sie miteinander verheiratet sind: Lisa Mies und Maximilian Pulst). Sie parlieren aneinander vorbei, reden wirres Zeug und sind heilfroh, dass ein Feuerwehrmann (genial daneben: Frank Damerius) auf der Suche nach etwas Löschbarem auftaucht. Dieser mutiert zum Paartherapeuten, bis sich die Sprache, das Bühnenbild und das Stück in seine Einzelteile auflösen. Die Wände der schicken Möbelhauswohnwelt fahren zur Seite und die stylische Toilette entschwebt in den Schnürboden, ganz so, als sei es die Versinnbildlichung der Himmelfahrt aller menschlicher Sprach-Exkremente.
Das alles geht nahtlos in Die Unterrichtsstunde über, die für Süheyla Ünlü und Sascha Tuxhorn eher zu einer Akrobatikstunde wird. Der psychisch gestörte Professor versucht seiner Schülerin allerlei unnützes Zeug beizubringen und begrapscht sie nebenbei. Geschwind entklettert diese an der Boulderwand-Szenerie, an der alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung im Vertikalen verankert sind, den lüsternen Annäherungsversuchen des Professors.
Wie sehr dieser eine echte Macke hat, versinnbildlicht das perfekt nebeneinander angeordnete Inventar der Wohnung. Mr. Monk, der Protagonist der gleichnamigen US-amerikanischen Krimiserie, hätte seine Freude an so viel Perfektion. Gibt doch die übertriebene Ordnungsliebe Halt in einer sich immer chaotischer entwickelnden Welt. Eine perfekte Paraphrase der vermeintlich überschaubaren Ordnung in nationalen Grenzen angesichts einer immer komplexer werdenden globalen Vernetzung.
Das Publikum war begeistert von diesem Komik-Werk, das Jan Philipp Gloger entfacht hat.

Predigt übers Sterben

Dagegen begrenzte Begeisterung bei der Uraufführung der Aufführung einer gefälschten Predigt über das Sterben in den Kammerspielen. Die zweite Premiere zum Schauspielauftakt geriet zu einer ebenfalls absurden Odyssee. Der schweizer Theaterregisseur Boris Nikitin hat mit Schauspieler Malte Scholz ein semi-autobiografisches Experiment zum Tabuthema Sterben gewagt. Scholz, der den Seelenstriptease anhand der persönlichen Erfahrungen mit dem Tod seines Vaters vollführt, gerät jedoch zu einer eher peinlichen Figur, die den vermeintlich ach so offenen Umgang mit dem Sterben zelebriert.
Umrahmt vom Nürnberger Gospelchor und dem Veitsbronner Gospelchor Voices entblättert er sich immer mehr, bis er schließlich – dramaturgisch völlig überflüssigerweise – nackt auf der Bühne sitzt. Der performance-artige Umgang mit dem gesellschaftlichen Tabuthema verwandelt sich in ein Projekt des Fremdschämens. Ein seltsamer inhärenter Aufruf zur Anarchie durch das Wiedererlangen der Sterbefähigkeit des Menschen passt ebenso wenig in die Auseinandersetzung mit dem Tod wie der an der Wand zerschmissene Feuerlöscher, dessen Einzelteile auch noch den Zuschauern in der ersten Reihe um die Ohren fliegen.
Das Ganze scheitert an der viel zu kopflastigen Herangehensweise an die Verarbeitung des Ablebens eines geliebten Menschen.

Tschechows "die Möwe"

Ebenfalls absurd wirkte die dritte Schauspielpremiere. Anne Lenk hat Anton Tschechows Die Möwe in einem riesigen Guckkasten mit Minimalausstattung inszeniert. Spielt Tschechows Tragikomödie doch eigentlich auf einem russischen Landgut an einem See. Lenk konzentriert die Handlung auf die Figuren. Diese suchen das Glück, die Liebe, die Selbstverwirklichung, eben den Sinn des Lebens. Doch die Suche bleibt erfolglos und in der Schauspielkunst scheint sich zumindest ein wenig Seelenheil zu finden. So treten im Laufe des Theaterabends immer mehr Neurosen zutage.
Kostja (köstlich moppeliges Riesenbaby mit Schlabberhose und Gelfrisur: Cem Lukas Yeginer) rackert sich unermüdlich ab, um zumindest ein klein wenig Aufmerksamkeit von seiner narzisstischen Mutter Arkadina (genial: Ulrike Arnold) zu bekommen. Mit einem verunglückten Stück will Kostja beweisen, dass auch er Theater kann. Denn seine Mama glaubt, als einst sehr erfolgreiche Aktrice nur für sich selbst Talent reklamieren zu können. Ihrem Sohn spricht sie jegliche schriftstellerische Begabung ab. Was erst zum wütenden Abschuss einer Möwe durch Kostja führt und schließlich zu dessen Selbstmord.
Eigentlich kann man permanent nur den Kopf schütteln über das Neurotiker-Kabinett, das Regisseurin Lenk auf die Bühne gezaubert hat. Aber es hat enormen Unterhaltungswert. Besonders, wenn der Arzt Dorn (herrliche Karikatur eines Machos: Raphael Rubino) italienische Schnulzen intoniert.
Erlösung finden die Figuren nicht. Kostjas Tod ist für seine Mutter nur ein Zwischenfall. Hauptsache, sie kann weiterspielen. Und so bekommt das Stück eine politische Dimension, die aber wohl kaum intendiert war. Egal was passiert – Vulkanausbrüche, Tsunamis, Ausländerjagden in Chemnitz oder absurde Vorgänge im politischen Berlin –, die Spaßgesellschaft möchte sich nicht an der Realität die Finger schmutzig machen. Hauptsache, das Vergnügen geht weiter. (Ralph Schweinfurth)

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