Kultur

Ist es ein Sinnbild für den Zerfall der rumänischen Familie, dass es in der Wohnung keinen ganzen Spiegel mehr gibt? Jedes der Kinder, erzählt Fotograf Sven Zellner, hütet eine Scherbe wie seinen Schatz. (Foto: Zellner/HFF)

27.10.2017

Zweifelhafte Spiegelbilder

Die Cinematographer’s Gallery der Hochschule für Fernsehen und Film in München lenkt den Blick auf die Möglichkeiten fotografischer Dokumentation

Die Zeiten, da Menschen vor fotografierenden Touristen lächelnd posiert haben, scheinen vorbei: Jetzt dreht man sich weg, wenn aus Bussen Reisegesellschaften quellen, immer die Kamera im Anschlag, den Handy-stick einer Lanze gleich vorneweg. Wie Horden von Voyeuristen trampeln sie durch die Privatsphären anderer Leute. Die geht in vielen Ländern – kulturell oder sozial bedingt – in den öffentlichen Raum über. Doch das Gefühl für respektvolle Distanz geht den Fast-Journey-Besuchern ab – für die physische ebenso wie für die psychische Diskretion: Das Recht am eigenen Bild wird den Menschen abgesprochen, sie sind bloß originelle Objekte. Besonders beliebt sind Urlaubsfotos, die versuchen, Erbärmlichkeit als pittoreskes Motiv einzufangen. So was dient dann als Beleg für die vermeintliche Kulturreise: Man war nicht nur beim klischeebeladen inszenierten Folkloreabend in der komfortablen Hotelanlage, sondern hat bei der organisierten Tagesrundfahrt auch das „richtige“ Leben gesehen. Die Pose regelrecht kolonialen Überlegenheitsgebarens, der stereotype Blick ist vielen solcher Urlaubsfotos eingeschrieben.

Lehrreiche Erfahrung

Scham hätten sie öfter verspürt, erinnern sich Caroline Spreitzenbart und Rebecca Hoeft, die fotografierend in exotischen Urlaubszielen unterwegs waren. Fast möchte man die „Fehlfarben“ mit dem penetranten rosafarbenen Stich in Rebecca Hoefts Aufnahmen als Schamesröte interpretieren. Oder ist es doch die rosarote Brille, durch die viele Reisende fremde Länder, Kulturen betrachten – benebelt von Verheißungen der Tourismusindustrie, sogenannte Urlaubsparadiese erleben zu können? Meer und Himmel wetteifern ums intensivste Blau, sanft biegen sich Palmen über den gleißendweißen Strand: das Sehnsuchtsbild eines unberührten Fleckchens Erde. Zuhauf kennt man solche Fotografien von immersonnigen Urlaubseilanden. Rebecca Hoefts Motiv zeigt auch eine Palme, die aber scheint eins zu sein mit dem Strommasten davor – ein geradezu brachialer Fingerzeig auf das von Menschen überformte „Paradies“. Und könnte der rosafarbene Himmel nicht als Bote einer Wetterkatastrophe gedeutet werden, als Vorbote eines Hurrikane, der Palme und Strommast bald hinwegfegen wird? So schnell kann ein Trugbild infrage gestellt sein. Rebecca Hoeft ist Kamerastudentin an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München. Nicht filmen, sondern fotografieren, „weil man dann als Kameramann oder Kamerafrau eigene Bilder finden kann und nicht umsetzen muss, was sich andere aus dem Filmteam vorstellen“, sei in der Ausbildung wichtig, sagt Tom Fährmann; er ist der zuständige HFF-Professor, selbst ein versierter Fotograf und Kameramann.

Im Vorbeigehen

Rebecca Hoeft war auf der hawaiianischen Insel Maui, einem pazifischen Südseeparadies. Ihre Kommilitonin Caroline Spreitzenbart war im indischen Kalkutta, in der Megastadt mit ihren katastrophalen Slums und dem quirlig-bunten Reiz der hinduistischen Wallfahrtsmetropole. Jeweils eine Handvoll der studentischen Reisebilder sind aktuell in der Cinematographer’s Gallery der HFF ausgestellt. „Fotografie und kulturelle Identität“ wäre die Projektidee zu überschreiben, erweitert um den Untertitel „Durch die Touri-Knipse betrachtet“. Kann man überhaupt in der klassischen Urlaubsfotografie ein authentisches Bild des Anderen einfangen? Solche Bilder entstehen meist als Schnappschuss im Vorbeigehen – es bleibt keine Zeit der Auseinandersetzung, um hinter Fassaden in private Wirklichkeiten eingelassen zu werden. Hat man als Tourist nicht sowieso vorgefertigte Bilder im Kopf, die man nur nachfotografiert? Wo nicht Verweigerung entgegenschlägt: Machen die Fotografierten dann nicht oft gute Miene zum nervigen Spiel und „geben dem Affen Zucker“, posen auf Abruf so, wie es ihre Begaffer erwarten? Genau solche Motive sieht man nicht in der Auswahl ihrer Reisebilder – gerade wenn es um Menschen geht, zeigen die Studentinnen Kehrseiten, führen die Erwartungen der Betrachter regelrecht vor.
Wie mürrisch schaut doch der Mann auf Caroline Spreitzenbarts Foto aus Kalkutta. Seine Frau huscht weg zwischen zwei Hauswänden. Nein, sagt die Studentin, in diesem Fall habe sie nicht um Erlaubnis gebeten, das Foto sei spontan im Vorbeigehen entstanden. Keineswegs heimlich gemacht hat sie Fotos am Rand eines der größten religiösen Feste Indiens – immer wieder sieht man Ordnungshüter, die sie selbst zu beobachten scheinen und gestreng Abstand fordernd zur Kamera blicken. „Es war tatsächlich so, dass wir selbst als Exoten bei diesem Fest betrachtet, manchmal sogar fast ungläubig berührt wurden.“ Sind das Leichenteile, die da aus dem Ganges gefischt, von Polizisten in Augenschein genommen werden? „Nein“, klärt Caroline Spreitzenbart auf, „das sind Figuren einer Göttin, die zum Abschluss der mehrtägigen Feiern ins Wasser geworfen werden“. Ist es, weil die Abzüge in Schwarz-Weiß und nicht in der leuchtenden Farbigkeit wiedergegeben werden, die man von solchen Massenspektakeln im Kopf hat, dass man nicht das Bild vom exotischen Kult erkennt, sondern das menschliche Drama assoziiert?
Solche Fotografien sind Lehrbeispiele nicht nur in Fragen der Kameratechnik und künstlerischen Selbstfindung. Es geht auch um essenzielle Fragen vom Wesen des dokumentarischen Erzählens, um dessen Glaubwürdigkeit und Vermögen, Wirklichkeiten und Wahrheiten zu vermitteln in Zeiten von undurchsichtiger Faktenmanipulation und „Fake“-Vorwürfen. Diskutiert wird das unter anderem beim diesjährigen Literaturfest München, bei dem erstmals die HFF mitmacht: Alles Echt. Alles Fiktion ist das Motto des „forum:autoren“. Kuratiert wird es von der Filmemacherin und HFF-Professorin Doris Dörrie in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus München.

Komplexes Erzählen

Als Beispiel für die professionelle Arbeit an einer komplexen fotografischen Dokumentation ist den studentischen Arbeiten – räumlich getrennt  – ein zweites Projekt zur Seite gestellt. Es geht um Motive aus der Fotoserie Kindheit in Rumänien des ehemaligen HFF-Studenten und mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfotografen Sven Zellner (er doziert inzwischen an der HFF). Das armselige Leben der sechs Geschwister einer rumänischen Familie schreit aus jeder der Aufnahmen – aber respektvoll führt Zellner die Kleinen nicht vor, als wären sie bettelnde Werbeikonen der Spendenindustrie. Er zeigt sie vielmehr, wie sie mitten in der Verwahrlosung um ihre „zivilisierte Kindheit“ kämpfen: Wie sie sich schön machen – mit einem Stahlschwamm die Haare waschen, mit grober Bürste den wirren Haarschopf in Form zu bringen versuchen, im rosafarbenen Taftkleidchen vor einer Spiegelscherbe posieren, wie die Größeren den Kleinen eine Schale mit Mandarinenschalen als Essen zubereiten, wie sie verträumt vor sich hin schaukeln, apathisch auf einem Sofa liegen. Oder wie sie ganz nah am Fernsehgerät stehen, als wollten sie in diese andere Welt dort reinkriechen.
Man kann viel in diese Bilder hineindenken – aber von der Wirklichkeit erfährt man aus diesen Momentaufnahmen, doch quasi nur die halbe Wahrheit. Dass Miruna weder rechnen, schreiben noch lesen kann, sich aber aufs Ohrfeigen verteilen und Frieden stiften versteht. Dass umgekehrt Mariana schnell lernt. Dass Ionut wie sein Vater Kuhhirte ist und schon mal ein Fahrrad geklaut hat, weil er anders seinen Traum nicht erfüllen konnte. Dass Mihai partout nicht spricht. Vor allem: Dass die fotografierten Kinder gar nicht gemeinsam unter einem Dach leben, sondern auseinandergerissen entweder hin und her gereicht werden oder bei Pflegeeltern leben.

Fotos, die Text brauchen

Für die Geschichten hinter den Fotos braucht es das Geschriebene – Sven Zellner arbeitet bei diesem Projekt mit der auf Länder des Ostens spezialisierten Journalistin Diana Laarz zusammen. Angestoßen zu dem Projekt wurde Sven Zellner von einem Unicef-Projekt, die Hilfsorganisation sorgte auch für Kontakte, versucht auch weiterhin dem Dokumentarteam bei manch bürokratischer Hürde vor Ort weiterzuhelfen. Bei der Ausstellungseröffnung ist es der Fotograf selbst, der emotional packend seinen eindringlichen Momentaufnahmen erzählerische Tiefe gibt. Dann erst erfährt man, dass die Fotografien über mehrere Jahre hinweg entstanden, dass Sven Zellner die Familie vor ungefähr fünf Jahren das erste Mal besuchte, dass er die Kinder auf ihrem Lebensweg wohl noch etwa drei Jahre weiter begleiten will. Und dass das keine Roma sind, wie man vielleicht auf den ersten Blick vermuten mag, der wiederum von Klischeevorstellungen gelenkt ist. Sondern dass das eine von Tausenden rumänischen Familien ist, die unbeachtet und vergessen am Rande Europas ein solches Leben führen. Und dass eben dort ein Nährboden für den Kinderhandel entsteht: Für eine Handvoll Euros verkaufen Eltern ihre Kinder, um die sie sich nicht kümmern können. Aus den Tausenden von Fotografien, die Sven Zellner bislang zu dem Projekt zusammengetragen hat, sind in der Cinematographer’s Gallery gut zwei Dutzend ausgestellt. Die beabsichtigte Publikation in einem Magazin wird den Fotografien die notwendige essayistische Textdokumentation geben. Für die dokumentarische Tiefe indes schwebt dem Team ein Buch vor. (Karin Dütsch) Information: Bis 12. Dezember („Touristen“) und 15. Dezember („Kindheit in Rumänien“). Hochschule für Fernsehen und Film, Bernd-Eichinger-Platz 1, 80333 München. 4. OG, am Fahrstuhl 2. Mo. bis Fr. 9-18 Uhr. www.hff-muenchen.de Literaturfest München mit dem „forum:autoren“, 15. November bis 3. Dezember.
www.literaturfest-muenchen.de Abbildungen:
Das Trugbild vom unberührten Südseeparadies konterkariert Rebecca Hoeft mit ihren Fotografien, die auf Maui entstanden.    (Foto: Hoeft/HFF) Abweisend blickt dieser Mann in Kalkutta der Fotografin entgegen, seine Frau wendet sich gleich ganz ab. Caroline Spreitzenbarts Fotografie entstand im Vorbeigehen.       (Foto: Spreitzenbart/HFF) Aus Sven Zellners Serie "Kindheit in Rumänien". (Foto: Zellner/HFF)

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