Landtag

Im Gespräch: Volkskundlerin Irene Götz, Okba Kerdiea, Flüchtling aus Syrien, Moderatorin Christiane Schlötzer, Gönül Yerli, Vizedirektorin des Islamischen Forums Penzberg, und der Gründer der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös (von links). (Foto: Landtag/Poss)

01.07.2016

Kaum Antworten auf eine schwierige Frage

Gespräch im Landtag: Was ist Leitkultur? Es diskutierten neben anderen Alois Glück, die Volkskundlerin Irene Götz und die Vizedirektorin des Islamischen Forums, Gönül Yerli

Als Repräsentantin der CSU war es ein schwerer Abend für Landtagspräsidentin Barbara Stamm. Sie hatte in der Reihe „Landtag im Gespräch“ zu einer offenen Diskussionsrunde über die „schwierige Frage nach der Leitkultur“ ins Maximilianeum eingeladen. „Leitkultur“ ist der zentrale Begriff des neuen Integrationsgesetzes, das Staatsregierung und CSU-Fraktion auf den Weg bringen wollen. Doch was sich genau dahinter verbirgt, das vermochte auch Stamm bei allem Bemühen gleich auf die erste Frage von Moderatorin Christiane Schlötzer nicht zu sagen. Sie antwortete mit Gegenfragen: „Wie sehen wir uns selbst? Wie schaut unser Zusammenleben aus?“ Basis für Antworten sei die Rechts- und Werteordnung von Grundgesetz und bayerischer Verfassung. „Leitkultur“ sei aber mehr als Paragraphen, so Stamm. Nur was?

„Wir können von Migranten nur verlangen, was wir selbst leben“

Wenn einer Antworten auf solche Fragen geben kann, dann ist das Alois Glück. Stamms Vorgänger im Amt, CSU-Fraktionschef a.D. und Präsident des Zentralrats des Katholiken a.D., galt Zeit seines Lebens als „Vordenker“. In seinem Impulsreferat spannte Glück einen weiten Bogen von dem ursprünglich auf Europa bezogenen Begriff der „Leitkultur“ bis zur aktuellen Flüchtlingswelle. Die sei kein „vermeidbarer Betriebsunfall“ gewesen, sondern als Folge der Globalisierung eine „neue Etappe hin zu einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft“. Dieser Dynamik müsse sich auch die deutsche, die bayerische Gesellschaft stellen. Aber nicht mit Ängstlichkeit, sondern mit Selbstbewusstsein. Aber braucht es dafür das kaum greifbare Konstrukt einer „Leitkultur“?

Auch Glück war der Ansicht, dass für Zuwanderer wie auch für die aufnehmende Gesellschaft eine über Verfassung und Gesetze hinausgehende Orientierung nötig sei. Er verwendete dafür aber lieber die Begriffe Leitlinien und Leitwerte. „Wir können von Migranten nur verlangen, was wir selbst leben“, betonte Glück. Dazu müsse die Gesellschaft ihre Kultur, ihre Werte und auch ihre christlich-religiöse Prägung selbstbewusst vertreten. Aufkommende Intolerenz, Verrohung der Sprache, Hass und Gewalt dürften da keinen Platz haben. Zudem forderte Glück eine fundierte und vor allem differenzierte Debatte über den Islam und mit den Muslimen. „Denn wer Islam und Islamismus gleichsetzt, diffamiert die große Masse der Muslime in Deutschland.“

Während Glück in Sachen „Leitkultur“ seine Skepsis diplomatisch verpackte, wurde bei der anschließenden Podiumsdiskussion die Münchner Volkskundeprofessorin Irene Götz deutlich. Eine „Leitkultur“ zu definieren, sei extrem schwierig. „Mit diesem Begriff kommt man schnell in die Sackgasse, weil er eine Homogenität in der Gesellschaft voraussetzt, die es nicht gibt“, erklärte Götz. Man dürfe auch nicht den Eindruck erwecken, als ob Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung schon immer Bestand in Deutschland gehabt hätten. „Nach 1945 mussten viele Deutsche erst zum Grundgesetz erzogen werden“, erinnerte Götz.

Reinhard Erös, Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“ und seit Jahrzehnten Pendler zwischen der muslimisch und der christlich geprägten Welt, konnte mit dem Begriff „Leitkultur“ gar nichts anfangen. Eine solche sei nicht definierbar, weil es eine einheitliche Kultur nicht gebe. So wie die CSU den Begriff offenbar verstehe, könne er nur zu einer Assimilation von Migranten unter Aufgabe ihrer Identität führen. „Integration ist dagegen das Aufnehmen von Menschen einer Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft, ohne dass diese ihre Kultur aufgeben müssen“, erläuterte Erös. Wer von Migranten die Anpassung an eine „Leitkultur“ fordere, übersehe, dass auch die aufnehmende Gesellschaft einen Beitrag zur Integration leisten müsse. „Wir müssen wissen, wie die Migranten ticken, und die müssen wissen, wie wir ticken“, brachte es Erös auf den Punkt.

Irene Götz warnt: „Mit der Leitkultur kommt man schnell in eine Sackgasse“

Wie schwierig das oft ist, berichteten Gönül Yerli, die vor 37 Jahren als Tochter türkischer Einwanderer nach Bayern gekommen war, und Okba Kerdiea, der vor einem Jahr aus Syrien geflohen ist. Yerli erzählte, dass sie oft nicht als Frau, Mutter oder Berufstätige wahrgenommen werde, sondern nur klischeehaft als Muslimin. Kerdiea, der zur Zeit Bundesfreiwilligendienst in einem Altenheim in Hof leistet, schilderte, dass nach seiner Erfahrung nicht kulturelle Fragen die Integration erschwerten, sondern das fehlende Wissen über das Leben des jeweils anderen und der fehlende Mut, aufeinander zuzugehen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Als diese Hürde überwunden worden sei, habe er sich angenommen gefühlt in Bayern.

Die „schwierige Frage nach der Leitkultur“ vermochten also alle Diskutanten kaum zu beantworten. Was einen Zuhörer aus dem Publikum zu der mit großem Beifall bedachten Frage brachte: „Wer trägt die Erkenntnis dieses Abends in das Gesetzgebungsverfahren?“ (Jürgen Umlauft)

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