Landtag

30 000 Kinder mit ADHS-Diagnose werden in Bayern mit Ritalin behandelt. (Foto: dpa)

04.12.2015

Ritalin hilft nicht allen Zappelphilipps

Das Gesundheitsministerium informiert díe Abgeordneten über Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in Bayern

Rumzappeln, rumschreien, stören: Kinder, die Probleme haben, sich zu konzentrieren, nerven Eltern und Lehrkräfte. Am bequemsten ist da der Griff zur Tablette – der Wirkstoff Methylphenidat verspricht, etwa unter dem Arzneinamen Ritalin, brave Kinder. Jetzt enthüllte eine Studie: Es wirkt viel schlechter als erhofft. Diese Woche befasste sich der Gesundheitsausschuss des Landtags mit dem Thema ADHS, mit Möglichkeiten der Diagnose und Therapie.

Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird immer häufiger gestellt, auch in Bayern. ADHS, so Ministerialrat Georg Walzel vom Gesundheitsministerium, „ist eine häufige und folgenreiche Störung des Kinder- und Jugendalters“ und jedenfalls „keine Erfindung“ übereifriger Psychologen. Weshalb der Landtag auf Initiative der SPD einen Bericht zum Thema erbat, der Häufigkeit, Therapiemöglichkeiten und Fördermaßnahmen für bayerische ADHS-Kinder beleuchtet.
Dabei kam jetzt heraus, dass 60 000 bayerische Kinder an der Störung leiden. Eine Untersuchung des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung in Deutschland ergab: Im Jahr 2011 attestierten Ärzte in Bayern bei 5,2 Prozent der Kinder zwischen 5 und 14 Jahren ADHS. Im Jahr 2008 waren es noch 4,6 Prozent. Auffallend waren dabei die großen Schwankungen innerhalb Bayerns. So wurde die Diagnose ADHS in Unterfranken doppelt so oft gestellt wie im bayerischen Durchschnitt – nämlich in rund 10 Prozent der Fälle. In der Stadt und im Landkreis Würzburg waren es sogar 11,6 beziehungsweise 11,2 Prozent. Besonders selten diagnostizierten Ärzte die Krankheit dagegen in Altötting und Garmisch-Partenkirchen (jeweils 2,2 Prozent) oder auch im schwäbischen Dillingen (2,5 Prozent). Ministeriumsvertreter Walzel vermutete, dass die Schwankungen daraus resultieren, wie gut die jeweilige Region mit Kinder- und Jugendpsychiatern versorgt ist.

ADHS: Die Diagnosestellung ist besonders schwierig


Eine ADHS-Diagnose, betonte Walzel, „gehört zum Aufwendigsten, was es überhaupt gibt“. Längst nicht jedes hyperaktive Kind dürfe automatisch in diese Schublade gesteckt werden. Auch Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche zeigten sich unruhig im Unterricht – weil sie nicht mitkommen. Oder besonders begabte Kinder – weil sie sich langweilen. Oder Scheidungskinder – weil sie Sorgen haben.
Neben der genauen Diagnosestellung sei die richtige Therapie entscheidend, erklärte Walzel. „Nicht jedes ADHS-Kind muss medikamentös behandelt werden.“ Derzeit erhalten etwa die Hälfte aller an ADHS leidenden Kinder in Bayern Medikamente.

Am häufigsten verschrieben wird derzeit der Wirkstoff Methylphenidat. Besser bekannt als Ritalin. Es ist ein Amphetaminderivat und wirkt eigentlich aufputschend, entfaltet aber bei unruhigen Menschen eine paradoxe Wirkung, indem es dämpft. Das Mittel unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz.
Eine große Studie kam vergangene Woche zu dem Ergebnis, dass Ritalin viel schlechter wirkt als erhofft. Die Analyse des internationalen Cochrane-Forschungsverbunds ergab einen sehr geringen Effekt von Ritalin, bei gleichzeitig deutlichen Nebenwirkungen: beispielsweise Schlafstörungen.

Zu viele Ritalin-Studien sind von der Pharmaindustrie finanziert


Ausschusschefin Kathrin Sonnenholzner (SPD) verwies darauf, dass es zu wenig unabhängige Forschung über Ritalin gebe. So hätten die Macher der Cochrane-Analyse bemängelt, dass viele Arznei-Studien von der Pharmaindustrie gesponsert seien. „Das ist sehr alarmierend“, betonte Sonnenholzner. „Wir brauchen eine unabhängige Forschung.“ Das sah auch Peter Bauer (Freie Wähler) so. Ministerialrat Walzel ergänzte, dass es zu Ritalin keinerlei Langzeitstudien gebe: „Man hat keinen 50-Jährigen, der als Kind mit Ritalin behandelt wurde.“ Einig war man sich indes darüber, Ritalin nicht generell zu verteufeln. „Ich glaube schon, dass wir Ritalin brauchen“, bilanzierte Karl Vetter (Freie Wähler), „aber vielleicht nicht so häufig.“

Studiendirektor Roland Zerpies vom Kultusministerium erläuterte, dass auch die Schulen auf die gewachsene Zahl von ADHS-Kindern reagierten: So seien jetzt umgerechnet fünf zusätzliche Stellen für Schulpsychologen an Realschulen und Gymnasien geschaffen worden. Daneben würden angehende Lehrkräfte während der Ausbildung über den Umgang mit ADHS instruiert. Auch hätten Schulen die Möglichkeit, spezielle Kurse für ADHS-Kinder einzurichten. Dort könnten diese lernen, mit ihrer Schwäche besser umzugehen. Möglich seien Kurse zum Sozialverhalten, also Sozialkompetenztraining, oder Verhaltens- und Aufmerksamkeitstraining. Helfen könnten auch die staatlichen Schulberatungsstellen. Zerpies stellte aber klar: „Schule ist ein pädagogischer Ort, kein therapeutischer.“ Die eigentliche Therapie von ADHS-Kindern müsse außerhalb der Schule erfolgen. Ausschussvize Bernhard Seidenath (CSU) verwies hier auf Ergo- Logo- und Psychotherapie.

Offen blieb, was die Auslöser von ADHS sind. Laut Georg Walzel spielt Vererbung eine große Rolle, auch der soziale Status sei relevant: Bei sozial Schwächeren werde die Diagnose häufiger gefunden. Ob Ernährungsfaktoren ausschlaggebend sind, könne er nicht sagen.
Mit Blick auf viele offene Fragen prophezeihte die Ausschussvorsitzende Sonnenholzner: „Das Thema wird uns bleiben, und wir werden es weiter verfolgen.“
(Waltraud Taschner)

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