Landtag

Wenn Jugendliche sich nicht anerkannt fühlen, werden sie von Salafisten angezogen, glauben Experten. (Foto: dpa)

23.10.2015

Salafisten als Familienersatz

Innenausschuss: Was treibt junge Menschen in die Hände von Salafisten? Experten diskutierten über das Thema islamische Radikalisierung

Die neue Vorschrift im Strafgesetzbuch zeigt anscheinend Wirkung: Zum ersten Mal wurde im Oktober ein mutmaßlicher Islamist am Münchner Flughafen festgenommen, der ins türkisch-syrische Grenzgebiet ausreisen wollte. Gleichzeitig wurde diese Woche allerdings bekannt, dass ein Syrien-Rückkehrer offenbar für den Geheimdienst der Terrormiliz Islamischer Staat gearbeitet und in dessen Auftrag gefoltert hat.

Rund 700 Menschen aus Deutschland sind bereits in Länder ausgereist, „aus denen andere fliehen“, wie der Vorsitzende des Innenausschusses Florian Herrmann (CSU) im Rahmen einer Expertenanhörung zur islamischen Radikalisierung betonte. Darunter seien allein 70 überwiegend junge Menschen aus Bayern. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, wie die Politik präventiv tätig werden kann.

Laut Landeskriminalamt hat sich die Zahl der Salafisten in Bayern in den letzten fünf Jahren mehr als verdreifacht – auf insgesamt 600. Als Gründe dafür nennt Ali Oumghar vom Landesamt für Verfassungsschutz zum einen, dass Jugendliche Salafismus als eine Art Rebellion gegen das Elternhaus sehen. Zum anderen biete der Salafismus vermeintlich einfache Lösungen. „Das Internet dient dabei als Brandbeschleuniger“, ergänzte Oumghar. Viele seien religiöse Autodidakten und hätten „keine Ahnung von Religion“.

Marwan Abou Taam von der Berliner Humboldt-Universität macht auch die Golf-Staaten für den sprunghaften Anstieg verantwortlich. Zwar sei der Salafismus schon seit dem neunten Jahrhundert eine reflexhafte Reaktion auf die Krisen des Islams. Doch die Lehrbücher der Salafisten würden aus Saudi-Arabien importiert. „Gleichzeitig betont Bundeskanzlerin Merkel, dass das Land Deutschlands wichtigster Partner am Golf ist“, wundert sich Abou Taam, der auch beim Landeskriminalamt in Rheinland-Pfalz arbeitet.

"Propaganda der Golf-Staaten deutlich entgegenzutreten"

Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mahnte die Politik ebenfalls, der „Propaganda der Golf-Staaten deutlich entgegenzutreten“. Zudem sollten Bürger salafistischen Werbeaktionen nicht zu viel Bedeutung zukommen lassen. Der Auftritt der „Scharia-Polizei“ in Wuppertal hat Rohe sogar Presseanfragen aus Peru verschafft. Gleichzeitig warnte er davor, Menschen auszugrenzen, die sich im Rechtsrahmen bewegen – beispielsweise Koranverteiler in Fußgängerzonen. „Das darf man tun.“

Claudia Dantschke von der Beratungsstelle Hayat sieht die Ursachen in erster Linie im privaten Bereich. „Ausreisewillige Jugendliche kommen auch vom ostdeutschen Land, wo es keine muslimischen Einrichtungen gibt“, verdeutlichte sie. Salafistische Gruppierungen böten flache Hierarchien und ein Dazugehörigkeitsgefühl – egal ob die Jugendlichen aus armen oder reichen Familien kämen. Dantschke fordert daher mehr Einrichtungen, in denen junge Männer und Frauen nicht sozial selektiert werden.

Der Verein Ufuq.de aus Berlin kämpft gegen die alltägliche Diskriminierung von Muslimen. Die Beratungsstelle will Jugendliche, Lehrer und Pädagogen sensibilisieren, Andersgläubige nicht bewusst oder unbewusst auszuschließen. „Genau das gibt ihnen doch das Gefühl, nicht dazuzugehören“, glaubt Bettina Wuttig. Videos von Salafistenpredigern gäben immer ein Gefühl von Bindung und Abenteuer. „Das müssen wir in Zeiten von Globalisierung und Entfremdung auch vermitteln“, sagte sie.

„Es reicht bei Youtube ’Islam’ einzutippen – schon kommt ein Salafist“, schimpft der bayerische Landesbeauftragte Mohamed Abu El-Qomsan vom Zentralrat der Muslime. Er macht Diskriminierungserfahrungen und fehlende Perspektiven für den Erfolg des „muslimen Extremismus’“, wie er es nennt, verantwortlich. Abu El-Qomsan wünscht sich mehr muslimische Ansprechpartner ist Bayern, um in den Städten Multiplikatoren zu haben. So ließe sich ein Netzwerk von Imanen aufbauen, die präventiv, seelsorgerisch und mit Gegenargumenten auf die Jugendlichen einwirken könnten. Nur: Dafür braucht es Logistik und eine gesicherte Finanzierung. „Die bestehenden Strukturen reichen hierfür nicht aus oder sind zu langsam“, mahnte der Landesvorsitzende.

In Bayern gibt es zwar seit wenigen Wochen ein Präventions- und Deradikalisierungsnetzwerk, um Radikalisierung vorzubeugen. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg hat außerdem die Beratungsstelle Radikalisierung seit 2012 über 1900 Anfragen bearbeitet. Doch in Nordrhein-Westfalen gibt es schon seit eineinhalb Jahren das Programm „Wegweiser“, das sich an gefährdete Personen richtet. Seitdem wurden in Zusammenarbeit mit örtlichen Trägern vier Anlaufstellen errichtet, vier weitere sollen noch dieses Jahr folgen.

Wer bereits in die Szene abgerutscht ist, kann ein Aussteigerprogramm nutzen. „Es ist nicht immer leicht, jemandem eine zweite Chance zuzugestehen“, räumt die Ministerialrätin des nordrhein-westfälischen Innenministeriums Anke Mönter ein. „Bevor man einen Ausstiegswilligen aber zurück in die extremistische Szene treibt, sollte man ihn bei einer Reintegration in die Gesellschaft unterstützen.“

„Nordrhein-Westfalen ist schon viel weiter“, resümierte Peter Paul Gantzer (SPD). Es gelte jetzt auch im Freistaat die Bildung, Ausbildung, Einbindung und Akzeptanz für Muslime zu stärken. Joachim Hanisch (Freie Wähler) verlangte, dass muslimische Glaubensgemeinschaften zukünftig mehr Jugendarbeit anbieten. „Egal ob Moslem, Atheist oder Christ – wenn Jugendliche sich nicht anerkannt fühlen, werden sie von Salafisten angezogen“, glaubt Katharina Schulze (Grüne). Sie pochte auf eine Anti-Diskriminierungsstelle und eine stärkere Einbindung muslimischer Verbände. An eine schnelle Umsetzung glaubt sie wegen der ablehnenden Haltung der Staatsregierung aber nicht: „Wir haben in Bayern noch einen weiten Weg vor uns.“ (David Lohmann)

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