Leben in Bayern

Die größte Freiheit ist die Angstfreiheit – das dachte sich wohl auch BSZ-Autorin Julia Temmen. (Foto: Temmen)

12.08.2011

Abtauchen gegen die Angst

Viele Menschen fürchten sich unter Wasser – ein Taufkirchner Tauchzentrum bietet deshalb spezielle Kurse für Angsthasen an

Tauchen entwickelt sich zunehmend zum Trendsport. Doch wie viele andere Menschen hat BSZ-Autorin Julia Temmen unter Wasser Angst. Damit soll nun Schluss sein: Um ihre Phobie vor dem kühlen Nass loszuwerden, besuchte sie mit anderen Angsthasen einen ganz speziellen Tauchkurs im oberbayerischen Taufkirchen. Ein Erfahrungsbericht.
Jedes Härchen meines Körpers würde sich jetzt aufstellen, wäre nicht die enge Gummischicht des Neoprenanzugs um meine Haut. Wie konntest du nur auf diese Schnapsidee kommen, schießt es mir durch den Kopf: Tauchen gehen – und das, obwohl ich schon immer Angst vor tiefem Wasser hatte. Im See oder Meer schwimme ich nur in seichtem Wasser oder habe eine Luftmatratze dabei, auf die ich mich retten kann. Selbst im Schwimmbad habe ich unter Wasser Panik, fühle mich verfolgt. Verfolgt von Haien, die sicher nicht im Freibad zu Hause sind.
Ja: Ich bin ein Angsthase. Nicht nur im Wasser. Ich habe schreckliche Flugangst – jahrelang bin ich in kein Flugzeug gestiegen, und auch jetzt begleiten mich im Flieger immer mein treues Kuschelpferd „Pferdi“ und eine Packung Beruhigungspillen. Im Dunkeln gehe ich nicht allein nach Hause. Wenn meine Freundinnen todesmutig um halb vier Uhr nachts nach Hause laufen oder die U-Bahn nehmen, schleiche ich mich um die Ecke und springe ins nächste Taxi. Ach ja, und dann fürchte ich mich natürlich noch vor Einbrechern, Menschenmassen und vor Schmutz.


Schweißperlen unterm Neoprenanzug


Doch wenigstens mit einer dieser Ängste soll heute endlich Schluss sein. Ich will mich nicht länger einschränken lassen. Nicht mehr als einzige im Schlauchboot zurückbleiben und vor mich hin schwitzen, während alle anderen abtauchen. Deshalb hole ich mir professionelle Hilfe und mache einen Schnuppertauchkurs.
Schwerfällig steige ich die Stufen zum Tauchbereich hinauf. Die Ausrüstung drückt schwer auf meine Schultern und die Hüfte. Ich muss mich am Geländer festhalten. Kleine Schweißperlen haben sich unter dem Neoprenanzug gebildet. Nervös gehe ich in Gedanken noch einmal die Erklärungen des Tauchlehrers Mike durch. Die wichtigsten Handzeichen zur Verständigung unter Wasser, die Atemtechnik, die Bedienung des Jackets – so nennt Mike die aufblasbare Weste, an der die Pressluftflasche befestigt ist.
Vermutlich gehöre ich zu den Wenigen, die die theoretische Einführung gerne noch verlängert hätten, bin ich doch froh um jede Minute, die zwischen mir und dem Abtauchen liegt. Mike läuft hinter mir, vielleicht um mich aufzufangen, wenn ich hintenüber kippe. Die Statur dazu hätte er. In seinem silberfarbenen Neoprenanzug wirkt er wie ein ergrauter Bär. Kräftig und gemütlich. So fühle ich mich schon ein wenig sicherer.
Seit 24 Jahren unterrichtet Mike Hartung, elf davon im Tauchzentrum in Aufkirchen bei Erding. Auch andere Tauchlehrer gehören zu seinen Kunden. Er bildet andere Tauchlehrer aus, gibt Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene an. Und vor allem: Angsthasen können bei ihm einen speziellen Schnupperkurs machen, um sich so mit dem Gefühl unter Wasser vertraut zu machen. „Das schönste beim Tauchen ist das Gefühl zu schweben“, schwärmt er. Wenn Mike lächelt, gräbt sich das längliche Grübchen noch tiefer in sein Kinn. Der Chlorgeruch wird mit jeder Stufe etwas stärker. Von einer leichten Nuance hat er sich am Ende der Treppe zum wohlbekannten Hallenbadgeruch ausgewachsen.
Rechts und links vom Mittelgang erstrecken sich die acht Tauchbecken, alle sind unter Wasser durch Löcher in den Wänden miteinander verbunden. Die Wasseroberfläche ist völlig ruhig. Doch gerade das löst ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Für mich bleiben Gewässer unberechenbar, mögen sie noch so harmlos aussehen. Mit dem Rücken zum Wasser sitze ich auf dem erhöhten Rand des größten Beckens, ziehe mir die blauen Flossen an und versuche, mich dabei nicht von den 25 Kilogramm der Pressluftflasche in die Tiefe ziehen zu lassen. 200 000 Liter Luftgemisch enthält die Flasche auf meinem Rücken. „Das ist unsere gute oberbayerische Landluft“, erklärt Mike.
Reiner Sauerstoff kommt beim Tauchen nicht zum Einsatz. „Sonst kriegst du eine Sauerstoffvergiftung.“ Ich vertraue Mike, dass wir mit der richtigen Mischung untertauchen. Ich soll mich nach hinten fallen lassen. So wie man es aus den Filmen kennt, wenn die Taucher auf der Schiffsreling sitzen, sich mit den Füßen abstoßen und rückwärts ins Wasser kippen. Ich lande zwar nicht im offenen Meer, aber mich blind fallen zu lassen, in diese unbekannte Masse, das bringe ich nicht über mich.
Ich diskutiere mit Mike, ob nicht auch die Leiter ein guter Einstieg ins Wasser wäre. Doch er bleibt unnachgiebig. Das gehöre dazu. Mike hat häufig ängstliche Tauchschüler. „Die schweren Fälle kommen immer zu mir“, lacht er. Meist ist es die Angst, nicht atmen zu können. Doch auch die Urangst vor dem unbekannten und unberechenbaren Element Wasser sitzt bei vielen Menschen tief – wie bei mir.
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, vielleicht sieben oder acht. Wir waren am Mittelmeer und ich bin meinen Eltern hinterher geschwommen. Immer weiter. Doch plötzlich verlor ich meine Eltern aus den Augen. Ängstlich blickte ich mich um. Paddelte immer weiter in meinem rosafarbenen Glücksbärchis-Schwimmreifen. Irgendwann tauchte eine Boje vor mir auf. Ich versuchte mich hinzustellen, bekam keinen Halt. Es war einfach nichts unter mir, ich wurde panisch…


Jede Angst hat ihre Geschichte


Jede Angst habe ihre Geschichte, hat mir mal ein Psychologe erklärt. Vielleicht ist das die Geschichte meiner Angst. Mike hält meine Hand, während ich nach einigem Zaudern meine Augen fest zukneife und nach hinten rutsche. Ich bin sicher, dass mich die Flasche nach unten ziehen wird. Ein letztes Zögern, ein letztes Mal die Gänsehaut abschütteln und fallen lassen. Überrascht öffne ich die Augen. Ich schwebe. Also doch nicht untergegangen wie ein Felsbrocken – mein aufgeblasenes Jacket hält mich an der Oberfläche.
Inzwischen ist auch Mike im Wasser gelandet. Ich soll erstmal zwei Runden schnorcheln, allerdings schon mithilfe der Pressluftflasche. Er will, dass ich mich an das Gefühl, unter Wasser zu atmen, gewöhne. Während ich mich mit einer Hand noch energisch am Beckenrand festklammere, greife ich nach dem Schlauch mit dem Mundstück aus Gummi. Es erinnert an die Form, in die ich beim Zahnarzt für den Zahnspangenabdruck beißen musste. Mit jedem Atemzug steigen hunderte kleiner Bläschen auf.
Ich muss durch den Mund ein- und ausatmen. Es fühlt sich unerwartet natürlich an und fällt mir leichter, als das Gleichgewicht zu halten. Die Pressluftflasche zieht mich immer wieder zur Seite und ich habe Mühe, nicht wie ein Käfer auf dem Rücken zu landen. Durch die Taucherbrille kann ich nur einen kleinen Ausschnitt des Beckens unter mir sehen. Das beunruhigt mich. Ich atme hektisch und drehe immer wieder panisch meinen Kopf.
Ich blicke zu Mike. Er gibt mir ein Zeichen, sein Daumen zeigt nach unten. Jetzt wird es richtig ernst. Wir tauchen unter. Langsam lasse ich die Luft aus meinem Jacket. Mit jedem Meter Tiefe wächst der Druck und legt sich wie beim Abheben eines Flugzeugs auf die Ohren. Ich halte meine Nase zu und puste kräftig. Erst wird mein rechtes Ohr wieder frei, dann mein linkes. An jeder zweiten Stufe der Leiter, an der wir uns herunterhangeln, halten wir an und wiederholen diesen Druckausgleich.


Frisbee spielen auf dem Grund des Beckens

Wir sind in fünf Metern Tiefe angekommen. Am schlimmsten sind die Geräusche. Das Brummen meines Atemgeräts und ein stetiges dumpfes Grollen im Wasser. Sie erinnern mich an die Titelmelodie des Weißen Hais. Ich will einfach nur raus aus dem Wasser. Wieder alles erfassen können und das Gefühl der Kontrolle zurückbekommen. Vielleicht hält mich mein Wille, nicht nachzugeben unter Wasser, vielleicht schäme ich mich auch einfach, aufzugeben.
Mike drückt seine rechte Faust senkrecht auf die flache linke Handfläche. Das bedeutet, ich soll mich auf den Boden knien und abwarten. Er hebt eine weiße Scheibe vom Grund auf. Sie ist genauso groß wie ein Frisbee und ganz flach. Mike macht eine schleudernde Bewegung aus dem Handgelenk und schickt die Scheibe in meine Richtung. Wie in Zeitlupe schwebt sie auf mich zu. Ich will mich ihr entgegenstrecken und sie auffangen. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich komme kaum vom Fleck. So als wollte ich wegrennen, doch meine Füßen stecken tief in Schlamm. Auch meine Gliedmaßen habe ich noch nicht ganz unter Kontrolle.
Eine etwas zu ruckartige Bewegung meines Beins und ich drehe mich im Kreis. Doch wir spielen noch eine ganze Weile Frisbee und ich gewöhne mich langsam an das Gefühl unter Wasser. Anschließend tauchen wir durch ein Loch in der Wand zum nächsten Becken. An den weißen Kacheln ist ein Basketballkorb befestigt. Wie Michael Jordan in seinen besten Tagen schwebe ich mit dem Ball in der Hand zum Korb. Spielerisch hat mich Mike von meiner Angst abgelenkt, wie ein Kind. Und wie ein Kind freue ich mich jetzt, wenn Mike mir lobende Zeichen gibt. Er schüttelt mir die Hand oder drückt Daumen und Zeigefinger aneinander, spreizt die übrigen Finger ab – in der Tauchsprache bedeutet das okay.
Nach 45 Minuten reckt er den Daumen nach oben, das Signal zum Auftauchen. Ich finde es fast ein bisschen schade. Im Tauchbecken werde ich bestimmt wieder unter Wasser gehen, doch bevor ich mich in einen See oder ins Meer wage, muss ich wohl erst noch meine Angst vor Fischen überwinden.
(Julia Temmen)

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