Leben in Bayern

Wo dieses Gefährt auftaucht, vibriert bald der Boden. Für die umstehenden Häuser besteht keine Gefahr. (Foto: Stumberger)

11.03.2016

Dem Münchner Untergrund auf der Spur

Man wähnt sich fast in einem Science-Fiction-Film: Riesige futuristisch anmutende Lastwagen lassen in der Landeshauptstadt den Boden beben

Seit Wochen rätseln die Münchner über orangenfarbene Kabel, die kreuz und quer über Bäume, Zäune und Ampeln hängen. Und warum versetzen weiße Gefährte ihre Umgebung in Schwingung? Der Grund: Die Stadt will Erdwärme nutzen und führt deshalb seismische Messungen durch. Ein derartiges flächendeckendes Verfahren in einer Großstadt ist eine Premiere. Würmtalstraße in München gegen 11 Uhr vormittags. Im Schritttempo bewegt sich ein Konvoi aus drei weißen Spezial-Lastwagen auf der Straße vorwärts. Nach 50 Metern stoppen die Fahrzeuge und aus ihrer Mitte heraus senkt sich eine Art Stempel auf den Erdboden herab – eine Tonne schwer. Auf Sekundenbruchteile genau abgestimmt beginnen die Stempel gemeinsam zu vibrieren, genau zehn Sekunden lang. Dann wird der Stempel wieder hochgefahren, die Motoren brummen auf, der Konvoi setzt sich wieder in Bewegung und steuert den nächsten Vibrationspunkt an.

Gesucht: heißes Wasser in den Kalksteinschichten

Wer in der Nähe der Fahrzeuge steht, bekommt die Erschütterung unmittelbar mit. Der Boden vibriert unter den Füßen und die Schwingungen erfassen den ganzen Körper, während Männer in Schutzwesten die rätselhaften Fahrzeuge absichern. Doch der Einsatz der fahrenden Vibratoren hat natürlich einen triftigen Grund: Sie sind sozusagen das Herzstück eines seismischen Verfahrens. Mit einer geophysikalischen Erkundung des Untergrunds unter Verwendung von künstlich erzeugten Bodenschwingungen will die Landeshauptstadt den Untergrund vermessen. Und das ist eine Premiere. „Es ist das erste Mal, dass ein derartig flächendeckendes Messprogramm in einer Millionenstadt durchgeführt wird“, sagt Stephan Schwarz, Geschäftsführer Technik und Versorgung bei den Münchner Stadtwerken.

Den Bewohnern der Landeshauptstadt hat sich das Messverfahren schon länger angekündigt, stießen sie doch allenthalben auf orangenfarbige Kabel, die kreuz und quer durch die Stadt verlegt wurden, über Bäume und Ampeln, durch Gebüsch und entlang von Zäunen. „Wir wollen wissen, wie der Boden beschaffen ist“, erklärt Andreas Schuck, Geophysiker der Firma GGL, das Ziel der Messung. Das seismische Messverfahren dient dazu, eine genaue dreidimensionale Karte des Untergrundes bis in drei Kilometern Tiefe zu bekommen.

Der Zweck des ganzen Unternehmens: Die Stadt München plant mit Hilfe einer derartigen Karte Bohrungen für ein Geothermie-Kraftwerk. Im oberbayerischen Erding kommt die Erdwärme aus der Tiefe bereits zum Einsatz ebenso in Unterhaching. Jetzt will auch die Landeshauptstadt diese Energie nutzen. „Wir wollen unsere Fernwärme auf regenerierbare Energien umstellen“, sagt Stadtwerke-Manager Schwarz. Die Region in und um München herum sei besonders gut für Geothermie-Projekte geeignet, denn hier findet sich in einer noch wirtschaftlich bohrbaren Tiefe von 2500 bis 4000 Metern heißes Wasser in den Kalksteinschichten. Holt man dieses nach oben, so lasse es sich auf nachhaltige Weise über Wärmetauscher zum Heizen (über ein Fernwärmenetz) oder auch über Turbinen zur Stromproduktion einsetzen.

Aber es ist eben auch ein sehr aufwendiges Verfahren, das dabei zum Einsatz kommt. Erst einmal braucht es Genehmigungen vom Bergamt sowie den Naturschutz-, Wasser- und Straßenbehörden. Eingeholt werden muss auch von den Eigentümern und den Pächtern die Erlaubnis zum Betreten der Grundstücke. Denn zur Erkundung des Untergrundes müssen auf dem betreffenden Gelände mehrere Tausend sogenannter Geophone ausgebracht werden, die untereinander durch orangenfarbene kilometerlange Kabel verbunden sind. „Die meiste Arbeit steckt in der Verteilung und Verkabelung der Geophone“, sagt Geophysiker Schuck. 2500 davon sind eingeschaltet, wenn die Vibro-Fahrzeuge mit dem Rütteln beginnen.

Die seismische Methode funktioniert so ähnlich wie ein Echolot. Von den Vibratoren, das sind die Stempel unter den weißen Lastwagen, werden Schwingungen in die Tiefe ausgesendet, die von den Gesteinsschichten in unterschiedlicher Weise reflektiert werden. Die im Boden steckenden Geophone registrieren ähnlich wie hochempfindliche Mikrophone die zurückgeworfenen Schwingungen und leiten sie an einen zentralen Messwagen weiter. Dort werden die Messungen aufgezeichnet und zu einer Untergrunds-Karte zusammengesetzt. „So können wir Brüche oder Verschiebungen im Gestein feststellen und den idealen Standort für eine Probebohrung bestimmen“, erklärt der Geophysiker.

Das Geophon ist ein unscheinbares kleines Plastikteil, von dem links und rechts Kabel abgehen und das mit einem Dorn in der Erde verankert ist. Gemessen werden damit Vibrationen von 12 bis 96 Hertz. Immer wieder kommt es allerdings vor, dass Tiere oder landwirtschaftliche Fahrzeuge die kleinen Plastikdinger aus dem Boden ziehen. Dann muss der Reparaturtrupp ausrücken.

Fernwärme zu 100 Prozent aus regenerierbarer Energie

Szenenwechsel in die Kienbergstraße 3. Dort steht der fahrbare Messwagen, quasi das „Gehirn“ der ganzen Messanlage. Im Inneren sitzen die Mitarbeiter und blicken auf einige Flachbildschirmen, auf denen jeder Rüttler des weißen Vibratoren-Konvois angezeigt wird. Sie werden vom Messwagen aus ferngesteuert, so können sie gleichzeitig aktiviert werden. Auf einem weiteren Bildschirm wird das Echo der seismischen Wellen dargestellt – auf diese Weise entsteht eine dreidimensionale Karte des Untergrundes. „Damit kann man exakt bestimmen, wo eine Bohrung erfolgreich verlaufen wird“, sagt Andreas Schuck.

Für Gebäude stellen die von den Vibratoren ausgelösten Bodenerschütterungen übrigens nicht dar, betont der Experte. Bei den ausgelösten Schwingungen orientiere sich die Mess-Crew an dem untersten Grenzwert, der in Hinblick auf denkmalgeschützte Bauten gilt.

Die erste Auswertung der Messergebnisse soll bis Ende des Jahres fertig sein. Die Planung: Noch vor der Heizperiode 2019/20 soll die erste Geothermieanlage in München in Betrieb gehen. Bei einem ähnlichen Projekt in Freiham soll sogar schon dieses Jahr geothermische Fernwärme in das Fernewärmenetz eingespeist werden. Insgesamt wollen die Stadtwerke München bis 2040 an die 16 Geothermie-Anlagen betriebsfertig haben. Die Fernwärme wird dann zu 100 Prozent aus regenerierbaren Energiequellen stammen. (Rudolf Stumberger) Foto (Stumberger): Der Mann mit dem Kabelsalat: Geophysiker Andreas Schuck mit den sogenannten Geophonen.

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