Leben in Bayern

Drei fabelhafte Mainwesen (von links): Torsten Graf als schwarze Wasserspinne, Carolin Schmidt als Schmetterling und Angelika Bäuml als Flussgöttin Möna. (Foto: Pat Christ)

09.08.2019

Der Flussgott und die dicke Spinne

Das Theater unterm Turm in Eisingen ist eine ganz besondere Kultureinrichtung: Menschen mit geistiger Behinderung entwickeln und spielen die Stücke

Seit 1981 zeigen Menschen mit geistiger Behinderung im Theater unterm Turm, was sie draufhaben. Wie viel Schweiß und wie viel Geduld es kostet, die Stücke über zweieinhalb Jahre hinweg zu realisieren, merkt man den locker-leicht daherkommenden Produktionen nicht an. In Eisingen bei Würzburg hat die achtköpfige Crew noch jede Menge zu tun, damit im nächsten Jahr wieder Premiere gefeiert werden kann.

Es dauert noch ein gutes Jahr, bis sie ihr Debüt geben werden: Im Herbst 2020 wollen sich Ann-Kathrin Beyersdorfer und Susanne Schoeppe als neue Leiterinnen des Theaters unterm Turm in Eisingen präsentieren. Bei diesem Theater handelt es sich um eine besondere Kultureinrichtung. Menschen mit geistiger Behinderung, die im Eisinger St. Josefs-Stift leben oder arbeiten, entwickeln die Stücke mit, deuten Rollen aus und agieren auf der Bühne. Aus diesem Grund benötigt jede Produktion sehr viel Zeit.

Eine neunköpfige Crew um Beyersdorfer und Schoeppe wird das aktuelle Theaterstück realisieren. „Fabelhafter Main“ lautet der Arbeitstitel. Ein Main-Gott namens Mönus soll eine Zentralfigur in der neuen Inszenierung werden. Enrico Illhardt wird in diese Rolle schlüpfen. Der 52-Jährige aus der bei Würzburg angesiedelten Komplexeinrichtung findet den Main „fabelhaft“. Vor allem, wenn das Wetter nicht ganz so schön ist: „Also wenn es regnet und blitzt und donnert“, sagt er. Dann ist das Wasser aufgewühlt. Und es wirkt tatsächlich ganz so, als wäre ein geharnischter Flussgott in Rage.

Das neue Stück soll auf unterschiedliche Fragen eingehen, die sich stellen, denkt man einmal eine Weile intensiver über den Main nach. Es soll um die Geschichte und die gegenwärtige Bedeutung des Flusses gehen. Vor allem aber auch um die Sagen, die poetischen Fabeln und Legenden, die sich um ihn ranken. „Bei Intensivtagen im März in Schweinfurt haben wir uns sogar mit einem Vertreter des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts getroffen“, berichtet Beyersdorfer. Wieder taten sich neue Welten auf. Das Ensemble erfuhr zum Beispiel Interessantes über Schleusen. „Aber auch das Thema Umwelt finden wir im Bezug auf den Main spannend“, sagt sie.

Die Kostüme nähen die Schauspieler selbst

Die Bedingungen, unter denen die Eisinger Produktionen entwickelt werden müssen, sind herausfordernd. Reguläre Proben finden lediglich einmal in der Woche für drei Stunden statt. Allerdings sind zwei Intensiveinheiten vorgesehen. So wird sich das Ensemble im Herbst für zwei oder drei Tage zurückziehen, um an den Kostümen zu arbeiten. Die sollen diesmal aufwendig gestaltet werden, weil sich Beyersdorfer und Schoeppe entschieden haben, bei ihrer ersten gemeinsamen Produktion auf den magischen Effekt von Masken zu verzichten. Fantasievolle Masken waren bis dato das Markenzeichen des Ensembles.

Einen ersten kleinen Teilerfolg konnten die Eisinger bereits feiern: Beim Stiftsfest im Mai präsentierten sie sich erstmals mit vorläufigen Kostümen. Flussgott Mönus zeigte sich mit seiner Frau, Flussgöttin Möna. Ebenfalls unter anderem mit dabei: ein Schwan, eine Muschel, ein Schmetterling und eine Wasserspinne. Alle neun Schauspieler hatten beim Casting im Oktober 2018 besonders gut abgeschnitten. „Leider konnten wir nicht jeden nehmen“, bedauert die Theaterpädagogin Beyersdorfer. Denn die Zahl der Bewerber war einfach zu groß. 22 Männer und Frauen mit geistiger Behinderung hatten sich zum Casting gemeldet. Mehr als neun auszuwählen, hätte das neue Leitungsteam überfordert.

Die Eisinger Schauspieler sind gefragte Künstler. Seit 1981 zeigen sie im Theater unterm Turm, was Menschen mit geistiger Behinderung draufhaben. Premieren werden immer begeistert gefeiert. Die Darsteller verzaubern vor allem dadurch, wie scheinbar mühelos sie die Rollen mit ihrer eigenen Persönlichkeit ausfüllen. Die Schauspieler erzählen dabei viel über sich selbst. Wie viel Schweiß und wie viel Geduld es kostet, die Stücke über zweieinhalb Jahre hinweg zu realisieren, merkt keiner der Zuschauer den locker-leicht daherkommenden Produktionen an.'

Damit in einem Jahr wieder eine rauschende Premiere gefeiert werden kann, müssen sich Beyersdorfer und Schoeppe richtig ins Zeug legen. Noch ist etliches zu tun. So soll es eine eigens für das Stück komponierte Musik geben Die Gruppe Strabande ist Kooperationspartner. Außerdem muss das Ensemble noch eine Menge Kostüme fertigen. „Sie sollen so gestaltet werden, dass sie zu einem körperlichen Spiel verleiten“, erklärt Beyersdorfer.

Ebenfalls mühsam: das Einwerben von Spenden

Das körperliche Spiel gehört ohnehin zu den Charakteristika des Theaters unterm Turm. Viel Zeit investieren Beyersdorfer und Schoeppe, um den Schauspielern verständlich zu machen, wie körperliche Ausdrucksformen, also Gestik, Mimik und Haltung, wirken. Rollen werden grundsätzlich so verteilt, dass sie gut zu den natürlichen Bewegungen der Schauspieler passen. Dana Dittrich zum Beispiel ist ganz der stolze Schwan, der majestätisch auf dem Wasser schwimmt. Carolin Schmidt ist die Rolle des flatterhaften Schmetterlings auf den Leib geschneidert. Und Torsten Graf verkörpert mit Bravour eine fette, schwarze Wasserspinne.

Eine weitere Schwierigkeit: Geldmangel. Das hält Beyersdorfer in der Ära der Inklusion für bedauerlich. „Theaterspiel ist eine wichtige und ernst zu nehmende Möglichkeit der Lebensäußerung, der Selbstdarstellung und des Ausdrucks der Lebensfreude von Menschen mit geistiger Behinderung“, sagt sie. Leider fänden sich aber für die Finanzierung solcher Projekte weder in den Pflegesätzen noch in den Betreuungsschlüsseln ausreichend Mittel. Viel Zeit muss deshalb für das Einwerbung von Drittmitteln aufgewendet werden.

Das neue Stück verspricht kurzweilige 70 Minuten. Die Grundintention, so Beyersdorfer: „Wir wollen mit der Theaterarbeit das Selbstwertgefühl der Darsteller steigern und ihre Persönlichkeit stärken.“ Auch dient die Arbeit des Theaters unterm Turm dazu, die Anerkennung und die Integration behinderter Menschen zu fördern. Das, was das Ensemble auf die Bühne bringt, ist aber nicht nur deshalb inklusiv, weil Schauspieler mit Behinderung mitwirken. „Da wir außerdem im Stück mit möglichst wenigen Worten auskommen wollen, gibt es kaum Sprachbarrieren, um die Geschichte zu verstehen“, erläutert Beyersdorfer. Somit könne ein breites Spektrum an Publikum jeden Alters und jeden Hintergrunds erreicht werden.

Nicht nur Fans des Mains sollten sich die Vorstellungen nicht entgehen lassen. Denn wer noch kein Fan des Flusses ist, wird es durch das Stück werden, sind die Theatermacher überzeugt. „Uns selbst fasziniert die Ruhe, die ein solcher jahrhundertealter Landschaftsbestandteil ausstrahlt, die Geschichten und der Zauber, die diesen Fluss, seine Lebewesen und Fabelwesen umranken“, schwärmt Beyersdorfer. Der Main, hat das Ensemble bei seinen Recherchen entdeckt, ist als Lebensader in vielfacher Hinsicht aus der Region nicht wegzudenken.
(Pat Christ)

Foto (Pat Christ): Die Theaterpädagogin Ann-Kathrin Beyersdorfer.

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