Leben in Bayern

Sven (l.) und Raphael hochkonzentriert vor dem Schachbrett. Boxwerk-Chef Nick Trachte stoppt die Zeit. (Foto: Kaufmann)

26.10.2012

Der König fällt im Ring

In München gibt es seit Kurzem eine neue Sportart: Das Schachboxen – gekämpft wird mit Hirn und Fäusten

Um den Krieg zu gewinnen, muss der Puls sinken. Ruhig atmen, tief atmen. Und dann den nächsten Zug planen. Raphael blickt konzentriert auf das Schachbrett vor ihm, die bandagierten Hände vor dem Kinn verschränkt. Sein weißes T-Shirt ist durchgeschwitzt und klebt auf seinem Oberkörper. Von seiner Nase tropfen Schweißperlen auf den Boden. Die Zeit läuft. Vier Minuten haben er und sein Gegner Sven für diese Runde. Dann ertönt ein schrilles Signal. Zeit für den Boxsack.
Schachboxen heißt diese Kombinationssportart, die Nick Trachte in seiner Münchner Sportstätte Boxwerk seit einigen Monaten anbietet. Nach Berlin ist es erst die zweite Stätte mit regelmäßigem Trainingsprogramm.
Jeweils am ersten Samstag im Monat wird im Boxwerk trainiert. „Schachboxen steckt zwar noch in den Kinderschuhen, will aber mal olympisch werden“, erklärt Nick, auch wenn er natürlich weiß, dass diese Sportart nie so populär werden wird wie beispielsweise Fußball. „Sie ist eben sehr exotisch“, gibt Nick zu. Die große Schwierigkeit: Es gibt nicht besonders viele Boxer und auch nur wenige Schachspieler. Menschen, die beides könnten, seien aber richtig rar.
Zehn Männer zwischen 18 und 41 Jahren sind an diesem Samstagnachmittag zum Training ins Boxwerk, eine umgebaute Druckerei, gekommen. Neben den Spiegeln an der langen Wand baumeln 13 Boxsäcke von der Decke, in einer Ecke liegen Hanteln und Matten bereit. Zwei Boxringe bilden das Herz der Trainingshalle.


Die Schwierigkeit: Denken mit viel Adrenalin im Blut


„Hier treffen die Kampfsportart Nummer eins und die Denksportart Nummer eins aufeinander“, sagt Nick. Und so paradox es klingen mag, zwei so unterschiedliche Sportarten zusammenzubringen, so verschieden sind sie gar nicht, erklärt der Profi. „Boxen ist Taktik, Technik, Kondition und Psyche. Und bei der Taktik überschneiden sich das Boxen und das Schachspielen.“ Beim Schach müssen die Spieler Züge vorausschauend planen. Und auch beim Boxen ist es wichtig zu erkennen, welche Strategie der Gegner fährt, wann es besser ist, anzugreifen, wann in Deckung zu gehen.
Erfunden hat diese Kombinationssportart der Performance-Künstler Iepe Rubingh. Der 38-Jährige ist auch Gründer des Weltschachboxverbandes und Vorstand des Berliner Schachboxvereins. Inspiriert von einem Comic von Autor Enki Bilal, in dem das Schachboxen das erste Mal auftauchte, wollte er diese Kombination selbst ausprobieren.
Dem Weltverband angeschlossen sind heute Gruppen in Sibirien, Indien, London, Los Angeles, Berlin und seit diesem Jahr auch München. Nick Trachte war schnell fasziniert von der Kombination und hat das Schachboxen deshalb in seine Trainingsräume geholt. Mit Iepe Rubingh plant er für das kommende Frühjahr einen Wettkampf zwischen München und Berlin – der im Münchner Boxwerk ausgefochten werden soll.
 Das Besondere und gleichzeitig Schwierige am Schachboxen ist es, mit viel Adrenalin im Blut hoch konzentriert geistig zu arbeiten. Julian hat damit besonders zu kämpfen. Der 26-Jährige mit den kurzen, dunkelblonden Haaren schlägt auf den Boxsack ein, die Füße dribbeln, vor zurück, vor zurück, ein Pfiff von Trainer Andreas Selak – Tempowechsel. Julian legt noch mal einen Zahn zu, dann ertönt erneut die Uhr. Drei Minuten Boxen sind um. Julian reißt die Klettverschlüsse seiner schwarzen Boxhandschuhe auf, wirft sie neben den Boxring und setzt sich auf seinen Platz am Schachbrett. Er schnauft laut, sein ganzer Körper vibriert, seine Beine wippen.
Zwei Tische weiter sitzt Raphael, der erst zum zweiten Mal am Schachbox-Training teilnimmt. Er scheint völlig ruhig, wirkt komplett entspannt. Im Raum ist es still. Hinter den konzentrierten Spielern schwingen nur noch leise quietschend die an Metallketten aufgehängten Boxsäcke – schließlich haben die Sportler eben noch auf sie eingedroschen.


Die Jungs haben einen eigenen Schachtrainer


Es ist so leise, dass sogar die kleine Analoguhr zu hören ist. Sobald Raphael seinen Zug gemacht hat, drückt stoppt er seine Uhr, jetzt läuft die des Gegners. Beim ersten Mal sei ihm die Umstellung nach dem Boxen schwerer gefallen, wird Raphael später erzählen. Jetzt aber ist er hochkonzentriert und schweigt.
Sein Gegener Julian dagegen murmelt vor sich hin: „Jetzt muss ich hier mal Stress machen. Ich brauche etwas, was den deckt, irgendetwas, was den deckt.“ Boxtrainer Andreas versucht ihm zu helfen: „Du musst ruhiger atmen, mach kurz die Augen zu, konzentrier dich.“
Neben Andreas steht der 30-jährige Eldar Grigorian. Er ist der Schachtrainer der Truppe. Die meisten Teilnehmer sind zwar zumindest mit den Grundregeln des Schachspiels vertraut. Doch fürs Schachboxen reicht das noch nicht. Zu Beginn jeder Trainingseinheit stehen deshalb jeweils 45 Minuten reiner Schachunterricht mit Eldar auf dem Programm. „Wieso darf der schwarze König auf G8 nicht die weiße Dame auf G7 schlagen?“, fragt er seine Schüler. Er spielt mit den Jungs an dem großen Brett an der Wand mit Magnetfiguren Szenarien durch. „Weil der Läufer auf B2 die Dame deckt“, gibt er die richtige Antwort selbst.
Eldar hat bereits bei der Münchner Schachakademie Kinder und Jugendliche trainiert. Er selbst hat als Jugendlicher bei den Hessischen und den Deutschen Meisterschaften gekämpft. Das sei aber schon lange her, meint er bescheiden. Selbst geboxt hat er noch nie. „Aber ich nehme es mir immer wieder vor“, sagt er. Doch Eldar hat davor auch großen Respekt, denn er weiß, wie viel schwerer das Schachspielen werden kann mit Adrenalin im Blut: „Dann passieren die meisten Leichtsinnsfehler.“
Die Boxer müssen sich nicht nur Regeln und Tricks einprägen, sondern auch lernen, möglichst schnell zu spielen. Vier Minuten haben sie pro Runde Zeit, dann eine Minute Pause, danach boxen sie drei Minuten. Im Wettkampf gibt es insgesamt elf Runden – sechs Runden Schach und fünf Boxrunden. Wer den anderen frühzeitig K. o. schlägt oder schachmatt setzt, hat gewonnen.


Sechs Runden Schach, fünf Runden Boxen


Es reicht also nicht, nur gut Boxen zu können. „Ein Spieler muss in beidem gut sein,  gut 60 Prozent aller Wettkämpfe werden im Schach gewonnen nicht im Boxen“, erklärt Nick Trachte. Beim Training geht es vor allem darum, den Wechsel zu üben – nicht im Ring, sondern am Boxsack.
Am Ende dieses Trainings steht aber noch ein echter Kampf an. Raphael gegen Sven. Boxwerk-Betreiber Nick baut deshalb schon mal den Spieltisch in der Mitte des Rings auf. „So ist es auch bei Turnieren. Das Schachspiel wird dann auf Leinwänden übertragen.“
Für Nick Trachte ist Schachboxen eine Möglichkeit, das Image des Boxsports aufzupolieren. Zwar sei dieser durch Sportler wie den Klitschko-Brüdern  schon um einiges besser angesehen als noch vor zehn Jahren. Dennoch glaubten viele, dass es dabei nur ums gnadenlose, kopflose Draufhauen geht. „Schachboxen bedeutet für den Kopf Höchstleistung. Du musst aber auch verdammt gute Beinarbeit leisten“, sagt Nick.
Jetzt steigen Sven und Raphael in den Ring. Raphael trägt einen schwarzen Kopfschutz, um sich zu schützen. Sven spielt oben ohne. Dann geht es los. Deckung, Beinarbeit, Deckung, Angreifen. Raphael bekommt eins auf die Nase, Blut fließt. Doch er  kämpft weiter, bis zum Schlusssignal. Dann reicht ihm Nick Trachte ein Taschentuch. Mit zwei kleinen weißen-roten Taschentuchstreifen in den Nasenlöchern steigt Raphael aus dem Ring. Schluss für heute. Keiner hat den Kampf gewonnen. Raphael wird beim nächsten Mal besser auf die Deckung achten müssen. Auf die seiner Königin und auf seine eigene.
(Lissy Kaufmann)

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