Leben in Bayern

Entwicklungshilfe-Pionier Jan Bodo Sperling lebt heute im oberbayerischen Schleching. (Foto: Frenzel)

18.11.2011

Der Toleranz-Entwickler

Vor 50 Jahren half Deutschland, in Indien ein Stahlwerk zu errichten – ein Bayer sollte das Projekt befrieden

Jan Bodo Sperling (84) hat die Entwicklungshilfepolitik in Deutschland und weltweit geprägt. Vor 50 Jahren war der Bayer beim ersten großen Projekt Deutschlands in Indien dabei – und kümmerte sich dort vor allem um die politischen und zwischenmenschlichen Probleme. Brüllaffen schreien aus dem Wald herüber, und es ist schwülwarm, so dass Deutschlands erst zwei Wochen zuvor ernanntem ersten Bundesentwicklungsminister der Schweiß auf der Stirn steht, als er auf den Tisch gekrabbelt ist und von dort die Menge überblickt. Hunderte deutsche Monteure und Ingenieure sitzen zu seinen Füßen auf Baumstämmen, die zu Sitzbänken umfunktioniert wurden. Männer, die nach Rourkela, 15 Busstunden westlich von Kalkutta, kamen, um dort ein Stahlwerk zu bauen, das Indiens Industrialisierung sichern soll. „Wer etwas auf dem Herzen hat, kann es mir sagen“, sagt Walter Scheel, FDP, an jenem 3. Dezember 1961, und sofort schießen hunderte Hände in die Luft, und alle reden durcheinander.
Berlin hat Mitte November das 50-jährige Bestehen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz BMZ, gefeiert, und eigentlich hätte man zu dem Anlass auch an Rourkela erinnern müssen. Denn wohl kein anderes Projekt hat die Art, wie Entwicklungshilfe heute verstanden wird, mehr beeinflusst. Die indische Regierung hatte die Bundesrepublik Anfang der 50er Jahre gebeten, beim Bau eines Stahlwerks zu helfen. Bis das BMZ gegründet wurde, war das Wirtschafts- und das Außenministerium für das Projekt zuständig. Die Erfahrungen von Rourkela habe die Politik des BMZ geprägt, heißt es im Ministerium. Und das ist vor allem einem Mann zu verdanken: Jan Bodo Sperling.

Man muss die Menschen auf das fremde Land vorbereiten


Auch er saß auf den Baumstämmen in Rourkela und hörte dem neuen Minister zu. Sperling war der inoffizielle Bürgermeister der deutschen Siedlung in Rourkela, manche nannten ihn „Sheriff“. Drei Jahre zuvor hatten die deutschen Firmen, die das indische Werk bauten, darunter Krupp und Demag, ihn geschickt, weil es auf der Baustelle immer mehr Probleme gab. Technische am wenigsten, alles war hervorragend geplant, aber politische und zwischenmenschliche. Unter Deutschen und zwischen Deutschen und Indern. Sperling hatte die Stelle bekommen, weil er Schreinermeister war, Wirtschaftswissenschaftler und Englischdolmetscher – also Ansprechpartner für alle: die deutschen Arbeiter, die Firmenchefs in Deutschland, und für die Inder.
Zu Walter Scheel habe er damals gesagt: „Wie können wir Menschen nach Indien schicken, ohne sie auf das Land vorzubereiten?“, erzählt Sperling.
Heute ist er 84. Er ist ein großer, schlanker Mann mit wachen Augen, die er zusammenkneift, wenn er sich erinnert. Sperling sitzt im Arbeitszimmer seines Hauses in Oberbayern. Die Wände sieht man vor Büchern nicht, viele handeln von Entwicklungshilfe und von interkultureller Zusammenarbeit, darunter sind auch wissenschaftliche Arbeiten zu Rourkela. Einige hat er selbst verfasst. Haben die geholfen? „Natürlich sprechen die meisten mittlerweile die Sprache des Landes, in das sie entsandt werden“, sagt Sperling. „Aber sehr oft mangelt es an Toleranz gegenüber der neuen Kultur.“ Das war auch in Rourkela das Problem.
Sperling hörte, wie deutsche Monteure ihre indischen Kollegen anschrien, wenn denen die Vokabeln fehlten, er sah, wie Inder sich über den deutschen Ordnungsfimmel lustig machten, über parallel aufgestellte Schraubenschlitze, er sah Saufgelage im deutschen Lager und immer wieder Prügeleien. Sperling dachte: Würde man die Männer auf den Auslandseinsatz vorbereiten, könnte man viele Probleme vermeiden.
Kurz nach seiner Ankunft in Rourkela leiht Sperling von einem Bauleiter eine Planierraupe aus und walzt Reisfelder in der Nähe der Arbeitersiedlung platt. Er will ein Clubhaus bauen, einen Treffpunkt für die Arbeiter. Eine Gruppe Arbeiter steht daneben, klatscht. An so etwas hatte noch niemand gedacht. Das Verhältnis zwischen Indern und Deutschen aber wird auch mit dem deutschen Club nicht besser. Eines Abends stehen drei Inder vor Sperlings Gartentür, da sitzt er gerade mit einem Whiskey Soda in der Hand und überdenkt den Tag. Sperling holt drei weitere Drinks aus der Küche. Nachdem sie eine Stunde über den nächsten Monsun geredet haben, sagen die Inder: „Deine Arbeiter nennen unsere Leute Bastard. Das geht nicht.“ Sperling verspricht, das Problem zu klären.

Missverständnisse führten zu großen Problemen


Als er am nächsten Tag auf die Baustelle geht, hört er, wie ein Arbeiter „Basta“ sagt, nachdem er einem indischen Kollegen einen Arbeitsschritt gezeigt hat. Er will sagen: fertig. Sperling klärt das Missverständnis. Für die Deutschen organisiert er Hindi- und Englischkurse. Doch die wenigsten gehen hin.
Sperling beobachtet ein weiteres Problem: Die Adivasi, die Ureinwohner von Rourkela, leben in einem Slum am Rand der Arbeitersiedlung. Vor Beginn der Bauarbeiten lebten sie von der Landwirtschaft, versorgten sich selbst. Doch jetzt ist ein Großteil des Stammesgebietes zerstört. Und weil sie keine Ausbildung haben, bekommen sie nur schlecht bezahlte Hilfsarbeiterjobs auf der Baustelle. Eigentlich sollten sie von der indischen Regierung entschädigt werden, doch die Zahlungen verzögern sich immer wieder. Viele Mädchen arbeiten als Haushaltshilfen bei den Arbeitern. Es gibt Gerüchte über sexuelle Belästigungen.
Sperling ließ sein vier Jahre währender Aufenthalt in Indien nicht mehr los. Das lag an dem, was er dort erlebt hat. Und es lag an Klaus Mehnert, einem Politikwissenschaftler, der die Rourkela-Baustelle zu deren Anfangszeit besucht hatte. Kurz bevor Sperlings Zeit in Indien im Jahr 1962 ablief, rief Mehnert ihn dort an und schlug ihm vor, zum ihm nach Aachen zu kommen, wo er 1961 den neu geschaffenen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule übernommen hatte, und über seine Rourkela-Zeit zu promovieren.
 Wirtschaftshilfe, sagte Mehnert, werde bald ein wichtiges Thema sein, und kein Wissenschaftler habe bisher so einen Einblick bei einem Projekt gehabt wie Sperling. Der nahm an. „Es ging mir darum, mögliche Probleme zu beschreiben. Eine Gebrauchsanleitung war nie mein Ziel.“
Rourkela wird so zur soziologischen Versuchsanordnung. Sperling beschreibt die Situation der deutschen Arbeiter in Indien, die Vorbehalte der Inder gegenüber den Deutschen, die Kommunikation zwischen beiden, das Problem der Ureinwohner. Ausführlich rekonstruiert und analysiert Sperling das Rourkela-Projekt. Es ist eine der ersten wissenschaftlichen Abhandlungen, die die Probleme der Entwicklungsarbeit darstellt.
Im Bundesministerium für Zusammenarbeit gilt Sperling nun endgültig als Experte. Er soll Kurse für Mitarbeiter des BMZ geben, die ins Ausland gehen. Verhaltensregeln stellt er nicht auf. Er lehrt vielmehr, dass man in Entwicklungsländern immer wieder Situationen erlebt, die man sich nicht vorstellen kann und in denen man selbst anders reagiert als erwartet. Rourkela ist sein Lehrbuch. Er erzählt den Entwicklungshelfern, wie ein Arbeiter in Rourkela hysterisch weinte, weil Inder die Montagepläne in Stücke gerrissen hatten und sich mit dem Papier Zigaretten drehten.


Sperling leistete auf der ganzen Welt Verständigungshilfe


Sperlings Erfahrung in der Wirtschaftshilfe spricht sich herum. 1964 geht er nach Harvard, um unter Henry Kissinger zu arbeiten, damals Professor für Außenpolitik, später US-Außenminister. Die USA, die schon viel länger Entwicklungshilfe leisten als Deutschland, beginnen gerade, sich mit den damit verbundenen Problemen auseinanderzusetzen. Das erste Mal werden Diplomaten in Fremdsprachen unterrichtet. Einer von Sperlings Kollegen in den USA ist Samuel Huntington, der spätere Autor des Buchs „Kampf der Kulturen“. Als die beiden einmal bei einem Bier zusammensitzen, drängt Huntington Sperling, seine Doktorarbeit ins Englische zu übersetzen. In den USA würde es noch nichts Vergleichbares geben.
Kaum ist die Arbeit in den USA erschienen, bieten die Vereinten Nationen Sperling eine Stelle in der Ausbildungsabteilung der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation an. Als erster Dozent überhaupt vermittelt er UN-Projektmitarbeitern kein technisches Wissen, sondern bereitet sie auf die soziale Herausforderung vor. Lehrmaterial sind wieder die Erfahrungen von Rourkela. Bald fordern ihn die anderen UN-Ausbildungsabteilungen als Dozenten an, auch die Weltbank. Schließlich ernennt man ihn zum Direktor des neu gegründeten Ausbildungscenters der UN in Turin. Dort schult er Ausbilder und reist zu Projekten in der ganzen Welt, um Verständigungshilfe zu leisten.
Im Sommer 2006 holte Rourkela Sperling auch leibhaftig noch einmal ein: Der Sprecher eines Vereins zur Rettung der Ureinwohner von Rourkela rief ihn an. Er sagte, er habe einen Aufsatz von Sperling über die Adivasi gelesen, aus dem Jahr 1963. Die Urbevölkerung kämpfe noch immer mit denselben Problemen. Die wenigsten seien für die Enteignung entschädigt worden. Der Mann lädt Sperling als Redner zur einer Tagung zur Situation der Adivasi ein. Bevor Sperling dran ist, spricht ein Vertreter des BMZ von der beeindruckenden Entwicklung des Stahlwerks, das heute zur staatlichen Sail-Gruppe gehört und mit Gewinn arbeite. Zur Lage der Adivasi dagegen habe er keine Fakten, sagt er. Aber die Verantwortlichen damals hätten sicher nach bestem Gewissen gehandelt.
(Veronica Frenzel)

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