Seit 21 Jahren fährt ein spezieller Notarztdienst für die Kleinsten durch die Landeshauptstadt. 24 Stunden an sieben Tagen die Woche ist er im Einsatz. Und oft zählt jede Sekunde. Die Staatszeitung hat Ärztin Conny Frenzel und Assistent Christian Hölzl einen Tag lang begleitet.
Der Kopf schnellt nach hinten, das Gesicht schwillt an, wird rot, dann blau. Arme und Beine sind hart, verkrampft, die Augen nach innen gedreht, nur das Weiß des Augapfels ist zu sehen. Die Mutter glaubt, ihre Tochter atmet nicht mehr. Panisch sucht sie das Telefon, wählt den Notruf: „Mein Kind! Es stirbt! Schnell!“
„Ihr Name? Das Alter des Kindes? Die genauen Symptome?“, fragt ein Mann mit ruhiger Stimme. Er sitzt in der Feuerwehr-Leitstelle in der Münchner Heimeranstraße und alarmiert, was er nur KND nennt – den Kindernotdienst: „Kind, zwei Jahre, Atemnot“, lautet der Notruf, den er um 9.04 Uhr abschickt. Der erste heute für die Münchner Kindernotärzte, den weltweit einzigen Rettungsdienst, der rund um die Uhr für kranke Kinder bereit steht.
In der Hauptfeuerwache an der Blumenstraße schlagen zwei Piepser Alarm. Kindernotärztin Conny Frenzel und Rettungsassistent Christian Hölzl eilen in die Garagenhalle. Sie joggen zu einem neuen 3er-BMW, ein sicheres, schnelles, silber-rot lackiertes Auto. Ein Feuerwehrmann drückt ihnen erst die Einsatzdetails in die Hand und dann auf den Knopf, der das Tor öffnet. Sein „Pfiat’s euch“ geht unter, Hölzl hat die Sirene eingeschaltet. Sie heult mit 96 Dezibel, auf der Straße halten sich Menschen die Ohren zu. Es ist die lauteste Sirene der Stadt - und das schnellste Auto der Feuerwehr.
Wie klein die Großstadt wird, wenn man mit Tempo 120 durch 30er-Zonen jagt! Wenn Hölzl über rote Ampeln donnert, über Tramgleise, sich durch Einbahnstraßen und über Bürgersteige quetscht. Für die Notärzte rechnet sich die Raserei – bei einer Reanimation sinkt die Überlebenschance mit jeder Minute um zehn Prozent.
Conny Frenzel blickt ruhig aus dem Fenster. Sie schweigt. Still ist es trotzdem nicht. Das Heulen der Sirene erinnert an die ewiggleichen Töne bei Telefonwarteschleifen. Durch das Funkgerät ertönt derweil eine merkwürdige Begleitmusik: Die Kollegen auf der Leitstelle melden „einen Sturz aus dritten OG“, „eine Reanimation auf Sportplatz“, „einen Verkehrsunfall auf der A9, Patientenzahl ungewiss“ – und klingen dabei ähnlich gelangweilt wie das Navigationsgerät, das Hölzl zu dem Patienten führt. In einer Truderinger Seitenstraße heißt es: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
Die Ärztin öffnet die Autotür, läuft eilig, aber ohne zu rennen auf einen Plattenbau zu, wartet im Treppenhaus auf den Aufzug. Zu Fuß hoch zu hasten und mit zittrigen Händen bei dem Kind anzukommen, hilft niemandem – im Zweifelsfall könnte sie dann keine Infusion legen in die winzigen Adern, könnte nicht mehr intubieren in die zarte Luftröhre.
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“
Das Wohnzimmer im vierten Stock ist klein, braune Sofas, schwarz-silberne Vorhänge, davor zwei Männer in neon-orangen Jacken. Der Rettungsdienst traf einige Minuten vorher ein, ein Mann mit Augenringen berichtet in knappen Worten: „Ein Fieberkrampf. Zwei Jahre altes Mädchen, Krampfdauer circa eine Minute, Temperatur 38,7, Zustand stabil“, Frenzel nickt und gibt der Mutter die Hand.
Ob es ihr gut gehe, wie ihr Kind heiße, dass Fieberkrämpfe in diesem Alter häufig vorkämen, dass keine Schäden bleiben werden. Sie untersucht das Mädchen, erklärt, dass es mit ins Krankenhaus soll, zur Routineüberwachung. „In Ordnung“, sagt die Mutter. Etwas tattrig packt sie Windeln in eine Tasche und ihre Tochter in eine Jacke. Der Schock sitzt tief – sie hatte ihr Kind bereits tot gesehen.
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, lautet das Motto des Kindernotdienstes seit seiner Gründung vor 21 Jahren: Weil ihre Körper anders funktionieren als die eines ausgewachsenen Menschen, sollen sie von Spezialisten behandelt werden. Oft scheuen Erwachsenen-Notärzte ohnehin zurück vor dem Gekreische der Kinder, der Hysterie der Eltern. Sie sind froh, wenn die Fachkollegen kommen. Die wissen, wie man Babys einen Zugang legt. Ihr täglicher Wahnsinn besteht nicht aus Herzinfarkten und Schlaganfällen, sondern aus Verbrühungen, Badeunfällen, Bonbons in der Luftröhre und Stromschlägen. Und immer wieder Fieberkrämpfen.
Die vier Münchner Kinderkrankenhäuser – das Schwabinger, der Dritte Orden, das Harlachinger und die Haunersche Kinderklinik – lösen sich in Wochenzyklen ab. Etwa 30 Ärzte schieben 24-Stunden-Schichten – für eine Pauschale von 144 Euro pro Schicht. Zusätzlich erhalten sie zwischen 80 und 100 Euro für jeden Einsatz. Manchmal sind das nur zwei, manchmal 20. Im Durchschnitt seien es sieben.
Um 12.36 Uhr piept Frenzels Alarm erneut. Das Mittagessen auf der Feuerwache, Zwiebelfleisch mit Spätzle, lässt sie stehen. „Mädchen, zehn Jahre, Kopfverletzung, Sturz aus zwei Metern Höhe“, meldet die Leitstelle. Das Retter-Duo rast nach Freising. Als es in einer Realschule ankommt, wird das Mädchen bereits von Sanitätern aus dem Pausenhof geschoben. Mitschüler stehen daneben, tuscheln. Dass sie von einem Baum gefallen ist, weiß die pummelige Fünftklässlerin nicht mehr. Auch ihre Mutter erkennt sie nicht. Ihre rechte Pupille ist größer als die linke – das könnte auf eine Gehirnblutung hindeuten.
„Wir konnten nichts mehr tun. Es tut mir leid“
Mit Blaulicht fährt der Krankenwagen in die Haunersche Klinik. Unterwegs versorgt Frenzel das Kind mit Sauerstoff, stellt Fragen, die meist nur die Mutter beantworten kann. Ihre Tochter ist zu verwirrt. Im Krankenhaus übergibt Frenzel an einen Arzt und verabschiedet sich von dem Mädchen. Mehr wird sie über sein Schicksal nicht erfahren. Schweigepflicht.
Nur manchmal fragt sie nach. Bei Fällen, die sie nachts nicht schlafen lassen: Bei einer Zwölfjährigen etwa, die mit Unterleibsschmerzen und Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Krankenhaus gebracht wurde. Dort entdeckten die Ärzte Sperma in ihrer Scheide – das des Vaters. Bei einem Jungen, der die Schläge des Stiefvaters nicht aushielt, sich vor die S-Bahn warf, überlebte – und zuhause dafür verprügelt wurde. Bei einem Kleinkind, das nach einem Autounfall 30 Minuten reanimiert worden war. Das hirntot auf der Intensivstation ankam. Dann der Befund, vor dem sich alle fürchten: „Wir konnten nichts mehr tun. Es tut mir leid.“
Oder bei einer Dreijährigen, die in die Isar fiel und nicht gefunden wurde. Die Feuerwehrmänner konnten sie erst am nächsten Morgen herausfischen, ihre blonden Haare mit Schlamm verklebt, ihre Haut eiskalt, ihr Herz still.
Das sind die Ausnahmen, die sie niemandem wünscht, und die doch jedem Arzt widerfahren. „Aber meist passiert nichts“, sagt sie. Auch dieser Tag geht mit „nichts“ zu Ende – mit nichts, das sie nicht schon kennt. Ein weiterer Fieberkrampf um 17.55 Uhr. Um 19.24 Uhr ein Kind, das die Antidepressiva der Mutter schluckt, eine Kehlkopfentzündung.
Die Nacht bleibt still. Zum Glück. Denn die Nacht und der frühe Morgen beunruhigen Kinderärzte. Es ist die Zeit des plötzlichen Kindstods. Wenn Mütter aufwachen, weil ihre Babys nicht nach Milch schreien. Wenn es im Bettchen ganz still ist. Wenn sie fassungslos den Notarzt rufen.
Dann drückt Frenzel mit zwei Fingern auf den Brustkorb des Säuglings, dreimal drücken, einmal pusten, dreimal drücken. Ein schneller Rhythmus. Wenn nach wenigen Minuten nichts passiert, merkt sie, dass es vorbei ist. Trotzdem wird sie weiter drücken, weiter pusten. Für die Eltern. Und für sich. Jeder soll wissen, dass sie alles getan hat.
„Gute Nacht“, sagt Conny Frenzel um Mitternacht zu Christian Hölzl. Was ihr Wunsch bedeutet, wissen nur Menschen, die das Leben als Kindernotarzt kennen: Dass es den 200 000 Kindern in ihrer Stadt München gut geht.
(Gesa Borgeest)
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