Immer wenn ihn die linke Schulter schmerzt, und das tut sie regelmäßig, muss Abdul Hamid A. an Sofia denken. An die zehn Tage, die er in der bulgarischen Hauptstadt im Gefängnis zugebracht hat. Mit Schlagstöcken haben die Wärter dort auf ihn und die anderen Häftlinge eingeschlagen – mehrfach jeden Tag. Weil er Syrer war, weil er unerlaubt ins Land gekommen war.
Jetzt sitzt Abdul Hamid A. in einem Zimmer im Pfarrhaus der Evangelisch-Lutherischen Kirche Fischbach im Südosten von Nürnberg. Ein Tisch, eine Küchenzeile, ein Kicker. In eine Ecke hat Pfarrer Johannes Häselbarth ein Bett gestellt. Auf dem Tisch liegen ein paar Grammatikbücher, eine Schale mit Datteln steht daneben. Eigentlich ist das hier der Besprechungsraum der Pfarrgemeinde. In einer Ecke des Raumes hängt eine rote Stola. Auf der Küchenzeile hat sich eine Plüschmaus namens Anna niedergelassen. Für gut zwei Wochen ist das hier die Welt für Abdul Hamid A.
Vom Fenster aus blickt man auf die Kirche, die Abdul Hamid A. Schutz gewährt. Schutz vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das den Mann nach Bulgarien abschieben will, in das Land, in dem er misshandelt wurde. Laut Dublin-III-Verordnung ist Bulgarien für den Asylantrag zuständig. Solange er das Grundstück nicht verlässt, ist der Flüchtling jedoch sicher. Er befindet sich im Kirchenasyl.
Vor ein paar Tagen ist Abdul Hamid A. 22 Jahre alt geworden. Jetzt sitzt er hier am Besprechungstisch und erzählt von seiner Flucht, die er am Neujahrstag 2022 gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder angetreten hat. Ein Dolmetscher übersetzt.
Er erzählt von seinem Dorf im Nordosten von Syrien. Das Dorf selbst liegt auf einem Gebiet, das offiziell von der syrischen Armee kontrolliert wird. Hätte er es auf eigene Faust verlassen, wäre er wohl Assads Truppen in die Hände gefallen, die ihn sofort eingezogen hätten. „Das Dorf war ein Gefängnis für mich“, sagt Abdul Hamid A.
Martyrium im bulgarischen Knast
Er erzählt, wie er und sein Bruder sich von der Mutter und den vier anderen Geschwistern verabschiedet und sich Schleusern anvertraut hätten; wie diese die Checkpoints der syrischen Armee geschmiert und sie so in sechs Stunden mit dem Auto zur türkischen Grenze gebracht hätten. Er erzählt, wie sie dort zu Fuß über die grüne Grenze geführt und dann weiter mit dem Auto nach Istanbul gebracht worden seien. Auch von der Flucht über Bulgarien, Serbien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien, berichtet er. Wie es in Prag der Fluchthelfer mit der Angst zu tun gekriegt und sie einfach in einen Zug nach Deutschland gesetzt habe. Und wie sie in Dresden schließlich bei einer Zugkontrolle entdeckt worden seien. All das, was er auch schon dem Bamf erzählte.
Vor allem aber erzählt er von dem, was ihm in Bulgarien widerfahren ist. Daran war man bei der Bamf-Anhörung weniger interessiert. Dreimal war die Gruppe von elf Flüchtlingen von Istanbul aus an die bulgarische Grenze gebracht worden, um auf die bulgarische Seite zu gelangen. Die ersten beiden Male wurden sie von den bulgarischen Grenzpolizisten aufgegriffen. Zuerst hetzten sie Hunde auf sie, dann schlugen sie sie und schließlich schickten sie sie in der Unterwäsche zurück. Auch Geld, Mobiltelefone und Essen stahlen ihnen die Polizisten. Beim dritten Versuch schafften die Flüchtlinge es schließlich über die Grenze und bis nach Sofia, wo sie dann aber festgenommen und zunächst für einen Tag auf die Polizeiwache und dann ins Gefängnis gebracht wurden.
Dort steckte man sie in einen Schlafsaal mit 300 Häftlingen. Die Matratzen waren schmutzig und voller Wanzen, auf das verdreckte Klo konnte man nur tagsüber gehen. „Und zu essen gab es gerade mal so viel, dass man nicht gestorben ist.“
Nach zehn Tagen wurden sie aus dem Gefängnis entlassen und zu einem Flüchtlingscamp gefahren, in dem die Zustände kaum besser waren. Einziger Vorteil: Man konnte es verlassen. Das taten die beiden Brüder dann auch, kontaktierten ihren Schleuser und setzten die Flucht nach Deutschland fort.
Was Abdul Hamid über seine Zeit in Sofia erzählt, lässt sich nicht überprüfen. Nur, und das macht den Bericht glaubwürdig: Er deckt sich mit nahezu allen Berichten von Flüchtlingen, die über Bulgarien nach Deutschland kamen. Der Verein Matteo – Kirche und Asyl, der die meisten Menschen im Kirchenasyl in Bayern betreut, erstellt gerade ein Dossier über diese Fälle. Es sind Dutzende. Alle berichten sie von Misshandlungen und menschenunwürdigen Zuständen.
Das Kirchenasyl in seiner heutigen Form gibt es in Deutschland seit knapp 40 Jahren. Es hat keine rechtliche Grundlage, aber in Bayern etwa gibt es eine Zusage des Innenministers, kein Kirchenasyl räumen zu lassen. Hier sind derzeit nach Matteo-Schätzungen rund 80 Menschen im Kirchenasyl.
In der Regel geht es heute beim Kirchenasyl um die Verhinderung von Dublin-Abschiebungen. Da das Bamf nach Dublin III im Normalfall nur sechs Monate Zeit hat, um einen Flüchtling in das Land der Erstregistrierung abzuschieben, gilt es meist, Personen, denen in diesem Land eine menschenunwürdige Behandlung droht, so lange aufzunehmen, bis die Frist verstrichen ist und Deutschland selbst den Asylantrag bearbeiten muss.
Ein Fall für Reichel
Am 24. Oktober 2022 erhielt Stephan Theo Reichel eine Nachricht über Whatsapp. Der Text des unbekannten Absenders lautete: „Ich habe eine Absage und Abschiebung nach Bulgarien.“ Reichel wusste gleich Bescheid. Solche Nachrichten bekommt er am laufenden Band. Seine Mobilnummer macht in bayerischen Flüchtlingsunterkünften seit Jahren die Runde. Der 70-Jährige ist so etwas wie der Mr. Kirchenasyl in Bayern. Hier gibt es kaum einen Fall von Kirchenasyl, den nicht er eingefädelt hat. Matteo hat er mitbegründet.
Die Whatsapp-Nachricht kam von Abdul Hamid A. Die Zwillinge waren inzwischen in einer Flüchtlingsunterkunft in Seubersdorf im Landkreis Neumarkt gelandet. Abdul Hamid A. gefiel es dort.
Zumindest bis zum 16. September. Da lag plötzlich ein gelber Umschlag im Briefkasten. Darin: der Abschiebebescheid. Abdul Hamid A. wurde mitgeteilt, dass Bulgarien am 23. Juli dem Übernahmeersuchen nach der Dublin-Verordnung zugestimmt habe. Von da an liefen die sechs Monate, innerhalb derer ein Flüchtling abgeschoben werden muss. Sein Bruder erhielt kein Schreiben. Abdul Hamid A. bekam die Nummer von Reichel. Die beiden tauschten Mobilnachrichten und Dokumente aus, trafen sich zweimal. Bei der Gelegenheit wird Reichel ihm das gesagt haben, was er fast immer sagt, wenn er von der Notwendigkeit eines Falles überzeugt ist: „Ich helfe dir. In 90 bis 95 Prozent der Fälle funktioniert das auch. Der Rest ist Inschallah.“
90 bis 95 Prozent – das klingt nicht schlecht. Abdul Hamid A. vertraute Reichel. Trotzdem blieb die Angst. „Ich hatte Panik. Während des letzten Monats habe ich nachts gar nicht mehr geschlafen, weil ich immer gedacht habe: Jetzt kommt gleich die Polizei und holt mich.“ Das Ende der sechs Monate nahte. Mit jedem Tag wurde eine Abschiebung wahrscheinlicher. Ein Cousin aus Baden-Württemberg wurde bereits nach Bulgarien abgeschoben, ein anderer aus Österreich ebenfalls.
Am 12. Januar ging dann bei Pfarrer Häselbarth eine E-Mail mit der Betreffzeile „AKUTE ABSCHIEBEDROHUNG im Raum Neumarkt/Oberpfalz (Seubersdorf). Junger Syrer soll nach Bulgarien abgeschoben werden“ ein. Keine 10 Minuten später antwortete der Pfarrer. Sollte klargehen, er müsse nur noch die Zustimmung des Kirchenvorstands einholen. Der war einverstanden; drei Tage später bekam Plüschmaus Anna ihren neuen Mitbewohner.
Reichel ist heute auch nach Nürnberg zu Besuch gekommen, sitzt – wie Pfarrer Häselbarth – mit am Tisch. Obwohl auch er im Vorfeld die Details der Flucht abgefragt hatte, war ihm eines dennoch neu: Abdul Hamid A.s Zwillingsbruder. Ein Paradebeispiel für die Willkür und Inkonsequenz des Bamf, findet Reichel. Zwei Menschen, die offensichtlich exakt dieselbe Fluchtgeschichte haben, und doch werden sie komplett unterschiedlich behandelt.
„Wenn es rechtsstaatlich zuginge, müsste ja auch das Gleichheitsprinzip gelten“
„Wenn es rechtsstaatlich zuginge“, sagt Reichel, „müsste ja auch das Gleichheitsprinzip gelten. Stattdessen machen sie bei dem einen gar keine ordentliche Prüfung, und den anderen wollen sie gegen besseres Wissen nach Bulgarien zurückschicken.“
Der Fokus des Kirchenasyls hat sich in den letzten Jahren stark nach Osten verlagert. Waren es anfangs noch oft Abschiebungen nach Italien, Ungarn oder Griechenland, die es zu verhindern galt, geht es mittlerweile überwiegend um Länder wie Rumänien, Polen, Litauen und Lettland. Und Bulgarien, das laut Reichel den größten Anteil ausmacht. Die Betroffenen kämen fast ausschließlich aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und manchmal dem Iran. Die Verschiebung hänge auch damit zusammen, dass teilweise Länder trotz ihrer Dublin-Verpflichtung überhaupt keine Flüchtlinge mehr zurücknähmen und Deutschland aus humanitären Gründen von Abschiebungen in gewisse Länder absehe.
Für Pfarrer Häselbarth ist es nicht das erste Kirchenasyl. Seit 2018 ist er Pfarrer hier, in seiner früheren Pfarrgemeinde waren einmal drei junge Männer gleichzeitig fast ein halbes Jahr bei ihm, und vergangenes Jahr beherbergte er hier in Fischbach einen Flüchtling für rund vier Monate.
Was er dabei allerdings gemerkt hat: „Das hat mich mehr Kraft gekostet, als ich gedacht habe.“ Deshalb war es dieses Mal ausschlaggebend für ihn, dass es nur um eine kurze Zeitspanne ging. Trotzdem sagt sein Gast schon nach ein paar Tagen, er sei von den Häselbarths so freundlich aufgenommen worden, dass er sich fast schon wie ein Mitglied der Familie fühle.
Nach zwei, drei Wochen, verspricht Reichel, werde das Bamf schriftlich bestätigen, dass die Frist für eine mögliche Abschiebung abgelaufen ist. Dann ist Abdul Hamid A. frei. Als Syrer werde er dann bestimmt in Deutschland bleiben dürfen – inklusive Sprachkurs und Arbeitserlaubnis. Eine Ausbildung zum Mechatroniker würde er gerne machen. Ein Happy End ist für ihn absehbar. (Dominik Baur)
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