Leben in Bayern

„Ein Alkoholiker allein ist immer in schlechter Gesellschaft“, sagt Peter S., ein Betroffener. (Foto. dpa/Klaus Rose)

07.08.2020

Die Krise lässt sich nicht schön trinken

Der Lockdown war für viele Alkoholkranke eine große Herausforderung – familiäre Konflikte und die finanziellen Folgen von Corona erhöhen immer noch das Suchtrisiko

Rund 70 Gruppen der Anonymen Alkoholiker gibt es in der Stadt und im Landkreis München. In jeder Gruppe kommen wöchentlich zwischen fünf und 30 Menschen zusammen, um sich gegenseitig Halt und Mut zu geben im Kampf gegen ihre Suchtkrankheit. „Die Meetings sind für uns ein wichtiger Anker“, sagt Peter S. von den Anonymen Alkoholikern (AA). „Sie sind ein Fixpunkt, der uns Kraft gibt, trocken zu bleiben.“

Umso größer war der Schock Mitte März. Infolge der Corona-Pandemie mussten binnen weniger Tage alle Gruppen schließen. „Die Treffen finden oftmals in den Räumlichkeiten von Krankenhäusern und Altenheimen statt“, erklärt Peter S., der die Entscheidung verstand. Er habe, erzählt der 32-Jährige, zu Beginn des Lockdowns dennoch einige Tage gebraucht, um zu begreifen, was da um ihn herum gerade passiert. Um sich selbst hat sich Peter S. keine Sorgen gemacht. „In den neun Jahren, in denen ich nun trocken bin, habe ich mir eine gewisse Stabilität erarbeitet“, sagt er. „Ich weiß, dass mich so leicht nichts aus der Bahn wirft.“ Zudem hat er einen sicheren Job und keine finanziellen Probleme.

Im Freistaat sind 250 000 Menschen alkoholabhängig

Andere hingegen hat der Lockdown und das vorläufige Aus der Gruppen sehr viel härter getroffen. Er habe, sagt Peter S., viele Anrufe von seinen AA-Freunden erhalten, die wissen wollten, wie es jetzt weitergehe. Die ihm von ihren Sorgen erzählten. Und von ihrer Angst, wieder mit dem Trinken anzufangen. „Ein Alkoholiker allein“, sagt Peter S., „ist immer in schlechter Gesellschaft.“

In der Zeit der strikten Kontaktbeschränkungen waren auch Sucht- und Hilfseinrichtungen betroffen. Sie durften vor Ort nicht mehr beraten, Gruppentherapien mussten ausgesetzt werden, Tagesbetreuungseinrichtungen konnten nicht mehr betreuen. Auch deshalb befürchteten bereits zu Anfang der Pandemie-Beschränkungen viele Sozial- und Hilfsorganisationen eine erhöhte Rückfallquote bei den Suchtkranken. „Wir haben uns sehr große Sorgen gemacht“, sagt Katrin Bahr, Leiterin der Angebote beim Münchner Präventions- und Suchthilfeverein Condrobs.

Im Freistaat sind nach Schätzungen des bayerischen Gesundheitsministeriums 250 000 Menschen alkoholabhängig. Wie viele der Suchtkranken die Beratungs- und Therapieangebote nutzen, wird nicht zentral erfasst. Wie ist es ihnen in der Zeit des Lockdowns ergangen? Jetzt, da die Suchtberatungsstellen vom Notbetrieb in einen, wenn auch noch eingeschränkten Normalbetrieb übergehen können und die Therapeuten nach vielen Wochen die Suchtkranken wieder zu Gesicht bekamen, können sie ein erstes Fazit ziehen. Wenn auch nur ein vorläufiges. „Die Langzeitfolgen“, sagt Olaf Ostermann, Leiter der Condrobs-Kontaktläden, „werden erst in den kommenden Wochen und Monaten sichtbar werden.“

„Der psychische Druck auf unsere Klienten hat in dieser Zeit stark zugenommen“, sagt die Sozialpädagogin Eva-Maria Hitzler, die bei der Caritas München den Therapieverbund Sucht verantwortet. Einsamkeit, Angst um den Arbeitsplatz, finanzielle Nöte oder Überforderung durch Homeoffice und Homeschooling – schon für gesunde Menschen war der Corona-Alltag eine Herausforderung. Für Menschen, die zusätzlich noch gegen ihre Sucht kämpfen müssen, seien es Drogen, Alkohol oder Glücksspiel, war dieser Alltag ungleich schwerer zu bewältigen. „Die Angst vor Ansteckung spielte auch eine große Rolle“, sagt Hitzler. „Viele Suchtkranke haben Vorerkrankungen und gehören deshalb zur Risikogruppe.“

In der Zeit der strikten Kontaktbeschränkung waren Beratung und Therapie der Suchtkranken in den Beratungsstellen des Freistaats nur noch per Telefon, Video oder E-Mail möglich. „Grundsätzlich“, sagt Nina Krüger vom Suchthilfezentrum der Stadtmission Nürnberg, „hat das auch gut geklappt, auch wenn es für alle Beteiligten anstrengend war. Nur die Stimme zu hören, nicht die Gestik und Mimik zu sehen, nicht die Schwingungen des Gegenüber zu spüren, das macht es aber für Berater schwierig.“ Die Suchtkranken auf der anderen Seite hätten vor allem die Nähe des persönlichen Gesprächs vermisst und den Austausch mit anderen Suchtkranken in den Gruppensitzungen, die ebenfalls ausgesetzt werden mussten. Problematisch sei es für einige auch gewesen, von zu Hause aus über ihre Probleme zu sprechen. „Am Küchentisch, mit Kindern in der Nähe, den Abwasch nicht erledigt, da fiel es manchen schwer sich abzugrenzen“, sagt Krüger. Auch Suchtberaterin Hitzler stellte nach etwa vier Wochen eine deutliche Ermüdungserscheinung bei ihren Klienten fest. „Es wurde immer schwieriger, sie zu motivieren.“

Bei den Anonymen Alkoholikern wurden ebenfalls alle Aktivitäten auf das Telefon und ins Internet verlegt. Viele der Münchner Gruppen haben sich online organisiert und ihre Meetings über Videokonferenzen abgehalten. Peter S. hat einige dieser virtuellen Treffen besucht, allerdings erst nach etwa einem Monat. „Ich hatte vorher nicht das Bedürfnis“, sagt er. „Aber als ich dann doch bei einem dieser Treffen war, habe ich gemerkt, wie sehr mir der Austausch gefehlt hat.“ Ihm hätten die Online-Treffen geholfen, sagt Peter S., und vielen anderen Anonymen Alkoholikern sei es ähnlich ergangen. „Insgesamt sind wir ganz gut durch diese Zeit gekommen.“

Corona begünstigt die Gefahr von Rückfällen“

Allerdings: Peter S. hat auch von einigen Rückfällen gehört. „Es gab Leute unter uns, die sind in dieser Zeit einfach abgetaucht und waren nicht mehr erreichbar.“ Auch Eva-Maria Hitzler berichtet von Rückfällen. Vor allem im Bereich der Substitution von Heroinabhängigen sei die Situation schwierig gewesen, sagt sie. Um das Risiko der Ansteckung zu verringern, bekamen die Substituierten statt der täglichen Dosis nun die Mengen für drei bis fünf Tage mit nach Hause. Nicht alle konnten mit dieser Freiheit umgehen. „Sie haben die Ersatzdroge verkauft und dann selbst zu illegalen Substanzen gegriffen“, sagt Katrin Bahr von Condrobs.

Bahrs Kollege Olaf Ostermann hat noch eine weitere Beobachtung gemacht. „In der Drogenszene wurde mehr konsumiert“, sagt er. Auch er erzählt von Rückfällen in der Substitution, aber auch von Rückfällen beim Beikonsum, insbesondere beim Alkohol. Sehr, sehr schwierig sei für die Drogensüchtigen die Zeit des Lockdowns gewesen, sagt Ostermann. Ohne ihre üblichen Einnahmequellen wie etwa Schnorren oder Flaschensammeln hätten die Menschen Schwierigkeiten gehabt, ihre Sucht zu finanzieren. Dazu sei die große Angst vor Ansteckung und große Einsamkeit gekommen. Die Condrobs-Kontaktläden, die für Drogensüchtige oft der einzige Ort sind, an dem sie Gemeinschaft erleben und saubere Spritzen, ein warmes Mittagessen sowie Ansprache bekommen, konnten während des Lockdowns nur mehr im Notbetrieb arbeiten. Die Mitarbeiter*innen gaben zwar weiterhin Lebensmittel, Nadeln und Spritzen aus, der Aufenthalt, die Gespräche, das Miteinander aber waren nicht mehr möglich. „Wir haben die Nähe zu den Leuten verloren“, bilanziert Ostermann.

Steigen an: Anfragen bei den Beratungsstellen

Dennoch: Im Großen und Ganzen, heißt es bei allen angefragten Beratungsstellen, seien die Suchtkranken gut durch die Zeit gekommen. „Unsere Klienten konnten unser verändertes Hilfsangebot annehmen und haben sich auch aufgehoben gefühlt“, sagt Bahr von Condrobs. „Das hat mich besonders gefreut.“

Die Gefahr der verstärkten Rückfälle indes ist noch nicht gebannt. Fachleute wie Bahr befürchten, dass die Suchtkranken, die im Lockdown noch gut durchgehalten und ungeahnte Kräfte mobilisiert haben, gerade jetzt einem erhöhten Suchtrisiko ausgesetzt sind. Weil die Anspannung nachlässt und sie die Kraft verlässt. Weil die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Corona-Krise nun auch auf sie durchschlagen. Und weil familiäre Konflikte eskalieren. „Wir von den Suchthilfestellen sind jetzt gefragter denn je“, sagt Bahr. „Die Krise ist noch lange nicht vorbei.“

Die Suchtberaterin hat dabei auch die Zahl der Neuanfragen im Blick. Diese war während des Lockdowns bei vielen Beratungsstellen zurückgegangen. Nun steigt sie wieder, teilweise sprunghaft, an. „Ich kann mir vorstellen“, sagt auch Peter S. von den Anonymen Alkoholikern, „dass sich in der kommenden Zeit vermehrt Betroffene bei uns melden.“ Er wisse aus eigener Erfahrung, dass aktives Trinken als Alkoholiker sehr schnell einsam mache und das wiederum sehr schmerzhaft sein könne. „Während des Lockdowns bestand nun nicht mal mehr die Möglichkeit, in einer Kneipe oder auf einem Fest diesem Schmerz zu entfliehen“, sagt er. „Die Vorstellung, als trinkender Alkoholiker im Homeoffice arbeiten zu müssen, lässt nichts Gutes ahnen.“
(Beatrice Ossberger)

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