Leben in Bayern

Rettungsassistentin Ursula Beirer mit blauer Trage. Der Sichtschutz ist wichtig, denn immer wieder wollen Besucher Bierleichen fotografieren. (Foto: Lill)

06.10.2018

Die Schattenseiten des schillernden Fests

Mit Wiesn-Sanitätern unterwegs: Während andere ausgelassen das Oktoberfest genießen, versorgen sie Verletzte und Betrunkene – kein ungefährlicher Job

Es ertönt nur ein kurzer Gong, dann piept auch schon das Funkgerät – es vergeht keine Minute und das Rettungsteam um Ursula Beirer hastet mit einer blauen Liege aus der Wiesn-Sanitätsstation in Richtung der Bierzelte. Vor einem Zelt soll ein Mann am Boden liegen. Die Lage ist nicht ganz klar. Vermutlich habe ein Oktoberfest-Besucher schon am Nachmittag einfach zu viel getrunken, sagt Beirer. Aber gut möglich, dass er aus einem anderen Grund zusammengebrochen ist. Immer wieder gibt es auf der Wiesn auch Herzinfarkte, und auch Schlägereien.

Geschickt steuern Beirer und ihre vier Kollegen an diesem Freitag die blaue Trage im Eiltempo über den Steinschotter. Die 29-jährige Rettungsassistentin ist die medizinische Leitung des Teams. Sie kennt die Leichtsinnigkeit mancher Wiesngäste – mit 16 Jahren hat sie das erste Mal ehrenamtlich auf dem Oktoberfest geholfen. Oft rückt Beirer wegen Alkoholvergiftungen oder Schnittverletzungen mit Glasscherben aus: „Doch es kann immer auch um Leben und Tod gehen.“ Nur einige Stunden später wird sich zeigen, wie recht sie mit dieser Aussage hat. Ein Streit endet tödlich: Ein 58-jähriger Oberbayer stirbt im Raucherbereich vor dem Augustinerzelt nach einem harten Schlag Gerüstbauers auf dessen Kopf – offenbar an einer Gehirnblutung.

Beirer ahnt an jenem Freitagnachmittag jedoch nicht, was noch Schreckliches passieren wird. Die Sicherheitsleute öffnen das Tor zur Festwiese und die fünf Sanitäter hasten durch das lärmende Gewusel. Zwei Touristen in Stoff-Lederhosen schauen neugierig in Richtung Trage, während sich eine Besucherin in eine Mülltonne übergibt. „An den Geruch von Erbrochenem muss man bei Einsätzen auf der Wiesn natürlich gewöhnt sein“, wird Beirer später sagen.

Die Trage bahnt sich ihren Weg durch die Menschenmenge – vorbei an Frauen im Dirndl und Männern in Lederhosen. Nicht alle Besucher gehen gleich zur Seite. „Achtung!“, ruft Toni Machmüller. Er ist der sogenannte Tragen-Führer des Teams, kümmert sich beim Einsatz um alles Organisatorische und das Fortkommen in der Menge. Das ist nicht immer leicht – vor allem, weil Betrunkene oft keinen Platz machen. Mehrfach muss Machmüller umherstehende Männer in der Wirtsbudenstraße zur Seite schieben. „Wenn eine Bewusstlosigkeit im Raum steht, kann jede Sekunde zählen“, weiß er.

Am Zelt warten schon die Securitys. Doch von dem angeblichen Opfer fehlt jede Spur. „Vielleicht hat sich der Mann von allein aufgerappelt. Oder jemand hat sich einen Scherz erlaubt“, sagt Beirer. Das passiere „gar nicht so selten“. Die blonde Frau im weißen Sanitäterhemd findet das nicht witzig. Denn sie wird gebraucht.

Selbst an normalen Oktoberfesttagen unter der Woche zählt der Wiesn-Sanitätsdienst nach eigenen Angaben gut 200 bis 300 Einsätze. Und dieser Freitag ist kein normaler Tag. Das sogenannte Italiener-Wochenende beginnt. Dann sind besonders viele italienische Touristen in den Biergärten und Zelten. Bei Sonnenschein und Temperaturen bis zu 20 Grad fließt der Gerstensaft in Strömen. Während die Kapellmeister in den Zelten in regelmäßigen Abständen zum „Prosit der Gemütlichkeit“ aufrufen, eilen die Sanitäter von einem Einsatz zum nächsten.

Jetzt geht es in Richtung des Augustinerzelts. Ein Mann verspottet die Retter auf dem Weg als „Wiesn-Taxi“. Und ein Besoffener mit Seppl-Hut grölt in Richtung Trage: „Der simuliert doch.“ Von außen sieht man wegen des Sichtschutzes nicht gleich, ob jemand auf der Trage liegt. Das ist auch besser: Denn manche Oktoberfestbesucher filmen oder fotografieren gerne, wenn eine Bierleiche in Richtung Krankenstation gebracht wird.

Alltag: Beleidigungen und Attacken gegen die Helfer

Machmüller sagt, der Respekt vor den Rettern habe nachgelassen. Da ist etwa der Mann, der es lustig findet, ganz im Stile eines siegreichen Formel-1-Fahrers mit einer Flasche Bier in Richtung des Teams zu spritzen. Es sind solche Erlebnisse, die die Helfer als weit schlimmer empfinden, als wenn ihnen ein Patient im Rausch vor die Füße kotzt.

Mehrere Sanitäter berichten, sie seien auch schon selbst auf der Wiesn attackiert worden oder hätten zumindest massive Gewalt gegen Kollegen erlebt. So schlug etwa an einem Abend, als Beirer gerade im Bierzelt einen Verletzten versorgte, ein Maßkrug nur einen Meter von ihr entfernt ein. Das Geschoss sei irgendwo aus der Menge gekommen, erinnert sich die Münchnerin. Beirer, die an 14 von 16 Tagen im Einsatz ist, sagt, dass sie seither zwar noch vorsichtiger sei. Angst habe sie aber nicht. Sie wolle einfach dort helfen, „wo Menschen Hilfe brauchen“.

Da ist etwa der italienische Tourist, der bereits am Nachmittag unweit des Augustinerzelts auf dem Boden liegt. „Oft dauert es, bis irgendwer überhaupt bei uns anruft“, sagt Beirer. Viele gehen achtlos vorüber. Beirer beugt sich zu dem hilflosen Mann hinunter. Sie nimmt seine Hand, streicht ihm die langen Haare aus dem dreckigen Gesicht. Sie redet ruhig auf ihn ein. „Das Wichtigste ist, nicht bedrohlich zu wirken. Hektik überträgt sich“, erläutert sie später. Nach ein paar kurzen Untersuchungen ist klar: Der Mann wird wieder auf die Beine kommen.

Doch es gibt auch diese dunkle Seite des schillernden Volksfests, mit deren Folgen Menschen wie Ursula Beirer allzu oft zu tun haben. 128 angezeigte Körperverletzungen gab es laut Polizei alleine in der ersten Wiesnwoche –  bei einem Dutzend Schlägereien hatten die Kontrahenten die schweren Maßkrüge als Waffe benutzt. Auch Beirer musste schon Opfer solcher blutiger Auseinandersetzungen behandeln: „Da eskaliert es manchmal, nur weil einer dem anderen den Platz wegschnappt oder aus dessen Bier getrunken hat.“ Sie wird einen Moment nachdenklich. Dann sagt Beirer, dass ihr die Arbeit nach wie vor „große Freude macht“.

Früher hatte sie mehrere Jahre ehrenamtlich für das Bayerische Rote Kreuz (BRK) auf der Wiesn gearbeitet. Seit diesem Jahr betreibt erstmals ein anderer Anbieter die Sanitätsstation. Aicher-Ambulanz setzte sich bei der Ausschreibung durch. Rund eine halbe Million Euro investierte die Firma unter anderem in eine neue Leitstelle, zwei OP-Räume, 15 Überwachungsplätze, EKG- und Ultraschallgeräte. Über 600 medizinische Helfer und 50 Ärzte sind insgesamt im Einsatz. Der BRK-Abschied war an der Isar ein Politikum.

Von 9 Uhr bis zum späten Abend im Einsatz

Doch Aicher ist bemüht, dem Eindruck entgegenzutreten, man werfe bewährte Strukturen über den Haufen. „Vieles machen wir so, wie es auch schon beim BRK lief“, sagt Aicher-Sprecherin Ulrike Krivec, während sie den Besucher durch die Sanitätsstation führt. Doch ein paar Neuerungen gebe es. So bietet Aicher ein Deeskalations- und Selbstverteidigungstraining für die Helfer an. „Auch haben wir einen eigens für Notfälle mit Kindern ausgestalteten Eingriffsraum für chirurgische Wundversorgungen“, sagt Krivec. Sie deutet auf ein Zimmer, dessen Wände mit Walen und Delfinen bemalt sind. Denn immer wieder gibt es auch Unfälle mit Buben und Mädchen. Eine Neunjährige etwa musste vor einigen Tagen behandelt werden, weil ihr Kopf beim Autoscooter-Fahren gegen das Lenkrad geknallt war.

Die Ärzte bekommen ein Gehalt. Die Sanitäter schuften dagegen so wie auch in den vergangenen Jahren noch immer ehrenamtlich. Die Schichten dauern sieben bis zehn Stunden. „Einzelne Sanitäter arbeiten aber freiwillig auch von 9 Uhr bis zum späten Abend“, sagt Krivec. Dies sei gesetzlich zulässig, weil bei Ehrenamtlichen das Arbeitszeitgesetz nicht greife. Es gibt eine Aufwandsentschädigung von 65 bis 100 Euro pro Tag. Dies sei deutlich mehr als das, was das BRK gezahlt habe, berichten zwei Sanitäter. Klar ist aber: Wer mit Sanitätern auf der Wiesn spricht, bekommt nicht den Eindruck, dass es in erster Linie das Geld ist, das sie antreibt. Nicolai Wöhe zum Beispiel nimmt für seinen Einsatz auf der Wiesn extra Urlaub. Zwölf Jahre sei er nun schon dabei, sagt der 28-jährige Rettungssanitäter. „Gut, dass ich jetzt mehr bekomme. Aber vor allem macht das Ganze auch Spaß und ich bin stolz, mitzuhelfen, damit in München die Wiesn gefeiert werden kann“, sagt er. Das Schlimmste am Wiesn-Dienst, meint Wöhe, seien die Vergewaltigungen. „Solche Einsätze nehmen einen schon mit.“ Machmüller dagegen erklärt: „Die Uniform ist ein Schutzschild. Wenn du sie ausziehst, dann lässt du weite Teile des im Beruf Erlebten hinter dir.“

Aicher bietet allen Helfern und Ärzten auch eine psychologische Betreuung an. „Wir schauen genau, dass keiner überfordert wird“, betont Krivec. So habe man die Mitarbeiter, die am vergangenen Freitag noch versuchten, den Schwerverletzten zu retten, umgehend aus der Schicht genommen. „Wir empfehlen den betroffenen Helfern in so einer Situation, etwas zu machen, was ihnen guttut.“

Doch was treibt die Helfer an? Wöhe sagt, er habe vor einigen Jahren einen Mann Mitte 50 erfolgreich reanimiert. „Das vergisst man nie und ist Belohnung für alles.“ (Tobias Lill)

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