„Die vier Jungs sind wieder da!“ Wenn Fabian Dinsing mit seinen Kollegen bei den Senioren in der Würzburger Hueberspflege auftaucht, ist das Hallo groß. Das liegt an der ansteckend guten Laune des jungen Mannes mit Downsyndrom. Studierende bauten den inklusiven Besuchsdienst auf – ein Erfolg, der Nachahmer sucht!
Ach, so schön müsste es immer sein, sagt Sigrid Strüning. Vor der spielfreudigen 77-Jährigen aus der Würzburger Hueberspflege liegt ein Bingo-Blatt, auf dem sich schon eine Menge bunter Chips tummeln. Neben ihr dreht der junge Ehrenamtliche Fabian Dinsing die Trommel mit den Bingo-Kugeln. Es rattert. „72!“, ruft Dinsing. Strüning guckt aufmerksam ihr Blatt durch. Nein, diese Zahl hat sie leider nicht. Die Spannung wächst. Ihr fehlen nur noch drei Ziffern. Wird sie wohl diesmal gewinnen?
Das Spiel läuft schon eine halbe Stunde. Am Anfang mit noch etwas gedämpfterer Stimmung. „Das ist meistens so“, erklärt Julia Brettreich, die sich als Studentin im inklusiven Ehrenamtsprojekt „Besuchsdienst“ engagiert. Es brauche zunächst immer eine Weile, bis die Bewohner der Pflegeeinrichtung des Würzburger Bürgerspitals Feuer fangen. Spätestens nach zehn Minuten ist es so weit. Dafür, dass der Funke überspringt, sorgen nicht nur die fünf Studentinnen, die sich im Projekt engagieren.
Die vier zeichnet eine große Hilfsbereitschaft aus
Ansteckend gute Laune bringen vor allem die vier jungen Besuchsdienstler mit geistigem Handicap in die Runde. Dass sich Menschen mit geistiger Behinderung ehrenamtlich engagieren, mag für viele ungewöhnlich klingen. Diese Menschen verkennen jedoch, was Menschen mit Handicap alles draufhaben, sagt Brettreich: Dass sie nämlich Talente hätten und sehr viel Gutes bewirken könnten.
Vor fünf Jahren bauten Studierende in Würzburg den inklusiven Besuchsdienst auf, in dem Menschen mit einer Intelligenzminderung zeigen, was für tolle Ehrenamtliche sie sind. Alle zwei Wochen sind sie am Sonntagnachmittag im Einsatz. Angesiedelt ist das Projekt in der Katholischen Hochschulgemeinde.
Vor allem Fabian Dinsing ist immer sehr kommunikativ. Der 23-Jährige, der auch in einer Theatergruppe für Menschen mit Handicap engagiert ist, mag alte Leute. Bevor an diesem Tag das Bingo-Spiel losgeht, unterhält er sich mit Sigrid Strüning. Die Seniorin lechzt danach, zu reden. „Ich bin mitten im Krieg geboren, im Jahr 1942“, erzählt sie Dinsing. Bei ihren Großeltern sei sie aufgewachsen. Damals habe man viel gespielt. „Besonders gern mochte ich es, den Kreisel mit der Peitsche anzutreiben.“ Dinsing hört ihr aufmerksam zu. Und erzählt der Rollstuhlfahrerin dann von seinen Erlebnissen.
Julia Brettreich organisierte das heutige Treffen zusammen mit Carina Müller. Für jeden Nachmittag bereiten die beiden Sonderpädagogikstudentinnen etwas anderes vor. „Wir singen, gehen spazieren, spielen oder quatschen manchmal auch einfach“, schildert Brettreich. Während der Begegnungsnachmittage führen sie, dezent im Hintergrund, außerdem Regie. Die Hauptakteure sind die „vier Jungs“. Jeder von ihnen übernimmt an jedem Nachmittag eine bestimmte Aufgabe. Fabian Dinsings Job ist es diesmal, die Bingo-Trommel zu drehen. Jede zweite Kugel bringt er zu Marcel Erbacher. Der ist 35 Jahre alt und sitzt aufgrund einer schweren Körperbehinderung im Elektrorollstuhl. Die kleinen Zahlen auf den Kugeln abzulesen, fällt ihm schwer. Deshalb flüstert ihm Dinsing jede Zahl ins Ohr. Erbacher spricht sie dann laut aus. Seine Stimme ist, auch aufgrund seiner starken Beeinträchtigungen, nicht ganz klar.
Müller, Brettreich und Kommilitonin Stefanie Weyer, die heute mithilft, sagen die Zahl am Tisch noch mal laut an. Bei der Suche nach der Zahl auf dem eigenen Bingo-Blatt erhalten manche Senioren Assistenz. Gerade hilft Nicolas Noé, einer der „vier Jungs“, einer betagten Heimbewohnerin beim Suchen. Auch Christian Behler beteiligt sich seit längerer Zeit an dem inklusiven Projekt. Aufgabe des 24-Jährigen ist es diesmal, alle Kugeln, die gezogen und vorgelesen werden, auf ein Zahlenbrett zu platzieren.
Die von den Studierenden entwickelte Idee, Menschen mit geistiger Behinderung ehrenamtlich in die Seniorenarbeit einzubinden, stößt in der Hueberspflege auf positive Resonanz. „So etwas sollte Normalität werden“, meint Einrichtungsleiter Marcus Krappitz, der es sich an diesem Nachmittag nicht nehmen lässt, selbst einer Seniorin beim Bingo-Spiel zu assistieren. Seiner Meinung nach eignen sich Seniorenheime hervorragend als Einsatzfelder für Menschen mit Handicap. „Und zwar allein deshalb, weil bei uns alles behindertengerecht ist.“ Nachdem auch die Bewohner Einschränkungen haben, würden Handicaps in Pflegeheimen außerdem in aller Regel völlig problemlos akzeptiert.
Für ein Ehrenamt im Seniorenheim ist keine spezielle Qualifikation erforderlich. Wichtig ist einzig die Bereitschaft, sich auf die Senioren, ihre spezielle Lebenssituation im Heim und auf ihre Stimmungen einzulassen. Denn es gibt durchaus Tage, wo der eine oder andere Bewohner nicht so gut drauf ist. Vielleicht, weil er Schmerzen hat. Oder weil er sich grämt, dass er schon wieder keinen Besuch vom Sohn oder der Tochter erhielt. Vor allem Fabian Dinsing geht damit locker um. Sein „Sonnenscheingemüt“ hellt auch das Gemüt der Senioren auf. „Am Ende sind immer alle happy, dass wir da waren“, sagt Julia Brettreich und lacht.
Dass gerade auch Menschen mit geistiger Behinderung sehr hilfsbereit sind und gerne helfen wollen, darauf macht die Bundesvereinigung Lebenshilfe seit Langem aufmerksam. Es genüge nicht, dass man behinderte Menschen „dabei sein“ und „teilhaben“ ließe. Menschen mit Handicap wollen mehr. Und sie können mehr. Das beweisen sie in Projekten wie dem Würzburger Besuchsdienst eindrucksvoll. Sie sind nicht nur ein Rädchen im Getriebe. Sie sind, ganz im Gegenteil, wichtig. Mehr noch: unersetzlich. Alle verlassen sich schließlich darauf, dass die „vier Jungs“ an den Sonntagnachmittagen erscheinen.
Die Pflegekräfte sind froh über den frischen Wind
„Dass sie durch ihr Ehrenamt eine solche Bedeutung haben, darauf sind die vier immens stolz“, meint Brettreich. Für sie selbst sei es ebenfalls eine goldrichtige Entscheidung gewesen, vor eineinhalb Jahren, in das inklusive Freiwilligenprojekt einzusteigen, sagt sie. Obwohl es nicht immer ganz leicht sei, sich neben dem Studium in der Initiative zu engagieren. Gerade gegen Ende des Semesters wächst der Stress. Dennoch bleibt die 25-Jährige am Ball. Und versucht, Kommilitoninnen für die Sache zu begeistern.
Insgesamt fünf Würzburger Studentinnen tragen das Projekt im Moment. Keine große Zahl. Weitere wären dringend nötig, um den Besuchsdienst am Leben zu erhalten. Für Müller und Brettreich ist das Projekt besser als die beste Schulung in Sachen Inklusion oder Partizipation. „Wir bekommen sehr viel Praxis mit“, sagt Brettreich. Vor allem hätte sich ihr Blick erweitert. Durch den Besuchsdienst beschäftigt sich die angehende Sonderpädagogin schließlich nicht nur mit behinderten Menschen. Sie erlebt auch hautnah mit, wie es Senioren in einem Pflegeheim ergeht. Und erfährt, was es bedeutet, an einer Demenz erkrankt zu sein.
Und Brettreich erlebt, wie anspruchsvoll der Pflegejob in einer stationären Einrichtung ist. Die Pflegekräfte wiederum sind froh über den frischen Wind, der durch die Studierenden und die vier Jungs mit Handicap ins Heim geweht wird. Am Ende des Nachmittags nehmen sie zufriedene Senioren in Empfang, die etwas Schönes erlebt haben. (Pat Christ)
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