Leben in Bayern

Teils live und teils online arbeiten vier Gruppen, die sich bei der Open-Sozial zusammengefunden haben. (Foto: Pat Christ)

25.02.2022

Ein Booster für das Ehrenamt

Nicht nur Corona hat Vereinen und sozialen Initiativen stark zugesetzt – im Landkreis Miltenberg hatte man eine außergewöhnliche Idee

Wie lassen sich Menschen dazu motivieren, sich wieder stärker für die Gesellschaft zu engagieren? Diese Frage trieb Mitglieder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung um. Die Idee: Gemeinden losten Bürger*innen aus, die sich auf einer Veranstaltung, der Open-Sozial, über soziale Probleme austauschen konnten. Und es hat funktioniert: Formiert haben sich dort vier Arbeitsgemeinschaften, in denen Interessierte zum Beispiel die Themen Pflege und Lebensmittelverschwendung in den Blick nehmen.

Corona setzt auch dem Ehrenamt stark zu. Zu viele Menschen, die in den letzten zwei Jahren krisenbedingt auf ein Vereinsleben verzichten mussten, stellten fest, dass sie auch ganz gut ohne leben können. Wobei es schon vor Ausbruch der Pandemie nicht überall gut ums Ehrenamt bestellt war. Vor allem in kirchlichen Kreisen brach das Engagement ein. Deshalb begannen sich Mitglieder der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) im Kreis Miltenberg bereits 2018 zu fragen, wie man wieder Menschen dazu bringen könnte, sich für soziale Fragen zu engagieren. Und so war sie geboren: die Idee zur Open-Sozial, einer Plattform, die Bürger*innen in den Dialog bringen soll. Über soziale Probleme und vor allem, wie man sie gemeinschaftlich angehen könnte.

Post vom Bürgermeister: Das hat viele motiviert

Doch wie kommt man an Menschen ran, die sich zwar engagieren wollen, aber keine Lust haben, auf eine Mitgliedschaft und lange Sitzungen in einem Verein? An Menschen, die sich für einen begrenzten Zeitraum für ein konkretes Projekt einsetzen wollen? Die Initiatoren der Open-Sozial wählten einen ganz besonderen Ansatz. Sie gewannen die Bürgermeister*innen im Kreis Miltenberg für ihre Idee. Per Zufallsauswahl schrieben diese Bürgerinnen und Bürger, um sie zum Mitmachen zu bewegen. So gelang es, einen breiten Querschnitt der Bevölkerung dazu zu bringen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Am 23. Oktober letzten Jahres war es endlich so weit. Trotz Corona trafen sich zahlreiche Menschen zur Auftaktveranstaltung in Elsenfeld. Um zu diskutieren und um sich zu vernetzen.

Lothar Bundschuh aus Kleinheubach war mit dabei. „Mit der Open-Sozial gab es bei uns im Kreis Miltenberg endlich mal wieder eine Plattform jenseits der imaginären Welt des Internets“, freut er sich noch heute. Ihn treibt das Thema gesunde Lebensmittel um. Und er fand bei der Open-Sozial Mitstreiter*innen, mit denen er sich zusammengeschlossen hat – zur AG Ernährung.

Und auch die Kommunalpolitiker*innen waren bei der Open-Sozial vor Ort. Und erfuhren, was die Bürgerinnen und Bürger im Landkreis aktuell am meisten bewegt. „Ich war überrascht über die Themenvielfalt, die sich herauskristallisiert hat“, sagt etwa CSU-Kreisrätin Edeltraud Fecher. Vor allem die „offene Atmosphäre“ fiel ihr auf. Die war für die Open-Sozial-Trägerinitiative „sozial & gerecht“ essenziell. Es sollte wirklich alles angesprochen werden dürfen. Und tatsächlich wurde vieles thematisiert. So wagten einige der Anwesenden auch, ihre Ängste und Ausgrenzungsgefühle aufgrund zu rigider Corona-Maßnahmen auszudrücken.

Offen war die Open-Sozial für alle Bürger*innen. Ohne die Zufallsauswahl wären aber sicher nicht so viele erschienen. Vom eigenen Bürgermeister angeschrieben zu werden, baut Hürden ab. Und noch etwas trug dazu bei, dass die Veranstaltung ein größerer Erfolg als erwartet wurde: Es „kirchelte“ nicht. Die KABler um Bildungsreferent Joachim Schmitt gründeten mit dem KAB-Ableger sozial & gerecht eine Initiative, die völlig neutral daherkommt. Denn es sollten bewusst auch Menschen angesprochen werden, die der Kirche kritisch gegenüberstehen, für die Religion keine Rolle spielt oder die einer anderen Religion angehören.

„Bei der Open-Sozial wurde wertschätzend und respektvoll mit jedem Einzelnen umgegangen“, bestätigt Alison Wölfelschneider, die dem Miltenberger Kreisjugendring vorsitzt. Jeder Teilnehmende habe völlig angstfrei seinen Blickwinkel, seine Meinungen und seine Erfahrungen einbringen können. Wölfelschneider selbst arbeitet seit der Veranstaltung im Oktober in einer AG zur Zukunft des Ehrenamts im Landkreis mit.

Bisher lief also alles nach Wunsch. Spannend wird nun die Frage, inwieweit konkrete Projekte aus den Arbeitsgruppen hervorgehen. Kreisrätin Edeltraud Fecher zum Beispiel hofft, dass in der Arbeitsgruppe zum Thema „Ernährung“ Ideen geboren werden, wie man der Lebensmittelverschwendung im Kreis Miltenberg begegnen könnte. Fragen dabei: Auf welche Weise und mit wem könnte man zum Beispiel Waren mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum bei Discountern abholen und zu Menschen bringen, die aufgrund magerer Renten oder Arbeitslosigkeit nur wenig Geld haben?

Jede AG hat einen Gruppenleiter respektive eine Gruppenleiterin aus den Reihen der KAB. Vier Gruppen arbeiten bis heute weiter. Zu den Themen Digitalisierung, Ehrenamt, Ernährung sowie zum Themenkomplex Gesundheit und Pflege. Die Treffen finden teils live und teils online statt.

Erstes konkretes Projekt: Ein Ehrenamts-TÜV entsteht

Rudi Großmann ging es nach der Auftaktveranstaltung in Elsenfeld richtig gut. „Mich hat dieser besondere Ansatz, Menschen für bürgerschaftliches Engagement zu gewinnen, begeistert“, schwärmt der 68-Jährige aus Erlenbach. Es sei „wunderbar, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung sachlich Argumente austauschen und gemeinsam Lösungen suchen“. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende will sich weiter dafür einsetzen, dass es mit der Pflegesituation im Kreis Miltenberg besser wird: „Hier ist viel zu tun.“

Endlich mal wieder live ein intensives Gespräch führen zu können, das fand Lothar Bundschuh ganz klasse. „Bei der Veranstaltung kamen ‚wirkliche‘ Menschen zusammen, um Problemfelder der heutigen Zeit zu benennen“, so der Kleinheubacher. Wünschenswert wäre eine Folgeveranstaltung 2022, bei der die Ergebnisse der Arbeitsgruppen vorgestellt und diskutiert werden, appelliert Kreisrat Hans Jürgen Fahn (Freie Wähler).

Zur Open-Sozial kamen Menschen, die nicht immer nur jammern und ihre Unzufriedenheit ausdrücken wollen. Die Veranstaltung zeigte: Viele Menschen sind bereit, Probleme mit anderen zusammen anzupacken. Dazu gehört auch Nadja Schillikowski, Inklusionsbeauftragte im Miltenberger Landratsamt. Wobei es viel mehr Probleme gibt, als angepackt werden können. Schillikowski hätte es zum Beispiel für wichtig empfunden, sich intensiv mit dem Thema Wohnen in Miltenberg zu beschäftigen. Dafür fanden sich aber nicht genug Mitstreitende Nun engagiert sie sich in der AG Digitalisierung.

Auf die Langzeitwirkung der Initiative darf man gespannt sein. Ein erstes bereits ziemlich konkretes Projekt nimmt bereits Gestalt an: Roland Fuchs aus Amorbach schwebt vor, einen „Ehrenamts-TÜV“ für Vereine und Gemeinden zu entwickeln. Der Prokurist, der durch die Zufallsauswahl zur Open-Sozial kam, engagiert sich bereits bei der Feuerwehr. Das Thema Zukunft des Ehrenamts treibt ihn heftig um. „Es stellt sich die Frage, ob wir als Bürger einer Gemeinde tatsächlich ehrenamtsfähig sind“, sagt er. Eben dies soll mithilfe des Ehrenamts-TÜVs herausgefunden werden.
(Pat Christ)

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