Ein Schiedsrichter mit Handicap – geht das überhaupt? Klar, meint man beim FV 1926 Thüngersheim. Dort möchte man Mario Stabel nicht mehr missen. Aber nicht nur bei seinem Heimatverein pfeift der 40-Jährige, der in einer Lebenshilfewerkstatt arbeitet, regelmäßig Spiele. Sogar in der Münchner Allianz Arena war er schon Schiedsrichter.
Die Bemerkung war ja so was von blöd! Er sei behindert, hatte einer zu Mario Stabel gesagt. Deshalb dürfe er dem Schiedsrichter nicht assistieren. Das war vor rund fünf Jahren. Stabel war völlig konsterniert. Stimmte das wirklich? Durfte er tatsächlich nicht an der Linie agieren, nur weil er eine Lernbehinderung hat? Der heute 40-jährige Unterfranke ging der Sache nach. Es stellte sich heraus: alles Quatsch! Also dachte sich Stabel: Jetzt erst recht. Seit 2016 ist der junge Mann vom Fußballverein Thüngersheim offiziell Inklusionsschiedsrichter.
Warum sollte man auch ein Handicap in den Vordergrund rücken? Es geht doch darum, was einer kann. Nach dieser Devise wird beim FV 1926 Thüngersheim gehandelt. Natürlich wäre es schlecht möglich, einen Rollstuhlfahrer oder sehbehinderten Kicker in eine der Mannschaften zu integrieren, sagt Peter Matzke vom Vereinsvorstand. Doch wer trotz Handicap mithalten kann, ist herzlich willkommen.
Mario Stabel kam schon als Kind zum Verein. Heute möchte ihn Peter Matzke dort nicht mehr missen: „Mario hat immer tolle Ideen.“ Auch U19-Trainer Tobias Seebach schätzt seinen kognitiv beeinträchtigten Vereinskameraden, der an diesem Tag beim Trainingsspiel der Junioren pfeift.
Regelmäßig nimmt Stabel auch an Fortbildungen teil
Schiedsrichter*innen entscheiden, ob ein Tor zählt oder ob es nicht gewertet wird. Sie pfeifen beim Abseits. Und befinden über Elfmeter. Das ist so weit klar. „Doch es gibt auch immer wieder neue Regeln“, sagt Tarik Özdemir von der Schiedsrichtergruppe Main-Spessart. Die werden in Theorieabenden besprochen. Mario Stabel nimmt an diesen Abenden teil. Trotzdem er eine Lernschwäche hat, kommt der junge Mann gut mit. Das liegt daran, dass man hier nicht nur verbal theoretisiert. Neue Regeln oder kniffelige Fälle werden per Video analysiert. „Wir fragen dann in die Runde, wie die einzelnen Schiedsrichter entschieden hätten.“ Mario Stabel hat meist was zu sagen.
Fußball gilt als eine urdeutsche Leidenschaft. Nur wenige Bundesbürger*innen lässt die Sportart völlig kalt. Unter den Fans wie unter den Aktiven sind auch viele Menschen mit Handicap. Vor fünf Jahren war Stabel zum Beispiel als Schiedsrichter in der Allianz Arena in München bei einem Turnier von 24 Inklusionsfußballteams zugange. „Als ich die Mail vom Bayerischen Fußball-Verband erhielt, mit der ich eingeladen wurde, dachte ich erst, das ist ein Scherz“, sagt er. Doch es war kein Scherz. Man wollte ihn wirklich als Schiedsrichter in München haben. Stabel reiste daraufhin aus dem Landkreis Würzburg nach Oberbayern. Wo sich für ihn ein Traum erfüllte: Er durfte seine Künste in der Allianz Arena beweisen!
Mit Stabel über sein Handicap zu sprechen, heißt nicht, ein heikles Thema anzutippen. Der Thüngersheimer spricht offen über sich und seine Beeinträchtigungen. Was er jedoch absolut nicht leiden kann, sind abfällige Äußerungen. Und kränkende Vorurteile. Wie jenem, dem er den Titel „Inklusionsschiedsrichter“ zu verdanken hat: „Du bist behindert, du darfst nicht an die Linie!“
Zum Glück sind die meisten Menschen nicht derart beschränkt wie jener Kommentator. So setzte sich Frank Schweizerhof vom Bayerischen Fußball-Verband (BFV), an den sich Stabel in seiner Not wandte, stark für den Mitarbeiter der Mainfränkischen Werkstätten für Menschen mit Handicap ein. Schweizerhof wiegelte nicht ab, von wegen, das sei doch alles halb so tragisch. Der BFV-Referent für Soziales nahm, als er von dem Vorfall erfuhr, Kontakt zu Stabel auf. Kurz darauf kam er nach Thüngersheim, um Stabel persönlich zu sprechen. Bald danach erschien ein Interview auf der BFV-Homepage. Mit der Überschrift: „Mario Stabel: Ein echter Gewinn für den FV Thüngersheim“.
Wenig später kam die „Kür“ zum Inklusionsschiedsrichter. Ein Schreiben, das Mario Stabel bei Einsätzen immer mit sich führt, weist ihn als Schiri und ehrenamtlichen Mitarbeiter des Fußballverbands aus. In der Bescheinigung ist auch das Spiel in der Allianz Arena ausdrücklich erwähnt.
Mario Stabel sieht man seine Beeinträchtigung nicht an. Und im Gespräch steht er Rede und Antwort. Auch online zu kommunizieren, ist für ihn kein Problem. „Seine Mails zu lesen, war am Anfang etwas schwierig für mich, doch jetzt komme ich damit ganz gut klar“, schmunzelt Tarik Özdemir. Denn Stabel tippt die Wörter so, wie er spricht. „Geburtstag“ ist in seinen Mails zum Beispiel als „käpursdak“ zu lesen. Darauf muss man erst mal kommen. Doch wer mit Stabel in Kontakt steht, und das sind recht viele Menschen, wissen mittlerweile, dass sie sich seine Mails einfach laut vorlesen müssen. Fast immer erschließt sich dann der Sinn.
Für Mario Stabel war es sehr schade, dass die Pandemie in den vergangenen Monaten so vieles unmöglich gemacht hat. Vor allem seiner Fußball-Leidenschaft konnte er lange nicht frönen. Immer wieder wurden Trainingsspiele angesetzt. Immer wieder wurden sie verschoben. Seit Juli wird endlich wieder trainiert. Und Stabel ist als Schiedsrichter endlich wieder im Einsatz. Zum ersten Trainingsspiel der U19 kam Tarik Özdemir von der Schiedsrichtertruppe nach Thüngersheim, um Stabel zuzusehen. Minimales hatte er zu korrigieren. Aber im Großen und Ganzen hatte sein Schiedsrichter-Kollege seine Sache wieder mal prima gemacht.
(Pat Christ)
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