Leben in Bayern

Nach dem Attentat auf das Oktoberfest am 26. September 1980 blieb das Oktoberfest einen Tag lang geschlossen. (Foto: BR)

30.01.2015

Ein Leben mit der Bombe

Ulrich Chaussy hat sich nie mit den offiziellen Antworten zum Oktoberfest-Attentat zufriedengegeben – ihm ist es zu verdanken, dass nun alles noch mal auf den Tisch kommt

Die Stimmen sind aufgeregt, zitternd, teils ungläubig: „Es war ein einziges Chaos“ – „Zwei Kinder san tot da hinten im Eck“ – „Ich kann im Moment gar nix sagen, ich seh hier nur die Leichen und Schwerverletzten“ – „Da vorn liegt mei Tochter, tot.“ Worte, aufgenommen von der Hörfunkreporterin Brigitte März nur Minuten nach dem Bombenanschlag auf dem Oktoberfest, am späten Abend des 26. September 1980. Worte, die auch heute noch unter die Haut gehen. Zeugen werden sich später erinnern, dass es auf dem Vorplatz beim Wiesn-Haupteingang aussah wie auf einem Schlachtfeld – und im Hintergrund wummerten und heulten weiter die Geräusche des größten Volksfests der Welt.
34 Jahre ist es her, dass der verheerendste Bombenanschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Republik erschütterte. Die Bombe explodierte um 22.19 Uhr in einem Draht-Abfallkorb, als viele Wiesn-Besucher gerade auf dem Heimweg waren. Sie forderte 13 Menschenleben, auch das des mutmaßlichen Bombenlegers Gundolf Köhler, ein 21 Jahre alter Student aus Donaueschingen. 211 Personen wurden verletzt – 68 davon schwer. Die Bilder sind heute im kollektiven Gedächtnis verblasst, die Schlagzeilen von damals längst Teil der Zeitgeschichte.
Einen aber lässt das Geschehen  bis heute nicht los: Ulrich Chaussy, einst ein Hörfunkreporter unter vielen beim Bayerischen Rundfunk, heute weit mehr als das: Chronist des Attentats und zugleich der, der immer wieder den Finger in die Wunde legt und daran erinnert, dass der blutige Terrorakt vom September 1980 längst nicht restlos aufgeklärt ist. Chaussy ist es zu verdanken, dass die von offizieller Seite lange vertretene Einzeltäter-Theorie heute weitgehend vom Tisch ist. Beharrlich hat er Widersprüche aufgezeigt sowie gravierende Fehler und Versäumnisse der damaligen Ermittler angeprangert.
Ein bisschen wirkt Chaussy wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Er hebt sich wohltuend ab von der Oberflächlichkeit und Geschwätzigkeit des heutigen Mediengeschäfts. Der gebürtige Badener, der seit 1965 in München lebt und dort Soziologie und Germanistik studierte, wählt seine Worte mit Bedacht – Gründlichkeit und Objektivität sind ihm wichtiger als die schnelle Schlagzeile. Die Aufklärung des Oktoberfest-Attentats wurde zur Lebensaufgabe für den 62-Jährigen, und so war es auch ein bisschen sein persönlicher Triumph, als Generalbundesanwalt Harald Range vor wenigen Wochen offiziell verkündete, die Ermittlungen wiederaufzunehmen.

„Zurzeit meldet sich jede Woche ein neuer Zeuge“

Vorausgegangen war der Kinofilm Der blinde Fleck, der von den Nachforschungen Chaussys erzählt, die mehr und mehr Zweifel am offiziellen Ermittlungsergebnis aufwarfen. Der Film, den die ARD am 4. Februar im Rahmen eines Themenabends zum Oktoberfest-Attentat zeigt, hatte dazu geführt, dass Bayerns Innenminister Joachim Herrmann lange verschlossene Ermittlungsakten zugänglich machte – und dass sich weitere Zeugen bei Chaussy und seinem Mitstreiter, dem Opferanwalt Werner Dietrich, meldeten. Alles in allem genug Stoff für einen erneuten Wiederaufnahmeantrag – nach zwei erfolglosen Versuchen war der dritte nun erfolgreich.
Rückblende: Das Oktoberfest-Attentat fiel in die Endphase des Bundestagswahlkampfs 1980. CSU-Kanzlerkandidat Franz-Josef Strauß wetterte gegen die angeblich zu laxe Sicherheitspolitik der sozialliberalen Bundesregierung und hatte die Verantwortlichen für den Anschlag schnell ausgemacht: linke Terroristen. Doch bald wiesen die Spuren in eine ganz andere Richtung: Mutmaßlicher Täter war Gundolf Köhler. Weitere Ermittlungen ergaben, dass Köhler ein Militärfreak und Sprengstoffbastler war, zudem zeitweise an Übungen der paramilitärischen, rechtsextremen und seit Anfang 1980 verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann beteiligt gewesen war.
Steckten also Neonazis hinter dem Attentat? Zwar wurden zahlreiche Mitglieder der Gruppe, unter anderem ihr Anführer Karl-Heinz Hoffmann, festgenommen, eine Tatbeteiligung aber wurde keinem nachgewiesen. Schnell kam die 50-köpfige „Soko Theresienwiese“ des Landeskriminalamts zu dem Schluss, dass es sich um die Tat eines frustrierten Studenten handelte, der sich seinen Hass auf die Menschheit von der Seele gebombt haben soll. Im November 1982 stellte der Generalbundesanwalt die Ermittlungen ein und erklärte den Fall für abgeschlossen.
Erst 1983 begann Ulrich Chaussy damit, eigene Recherchen zum Thema anzustellen, nachzubohren und in seinen Radiobeiträgen unbequeme Fragen zu stellen. Fragen etwa nach den Zeugen, die Köhler zusammen mit weiteren Männern am Tatort und am Tag zuvor im Auto in München gesehen hatten. Dann wurde Chaussy ein Karton voller Akten zugespielt. Absender unbekannt. Ermittlungsakten, Zeugenaussagen, Gutachten und Aktenvermerke. Je tiefer der Journalist sich in das Thema eingrub, umso mehr zweifelte er an der offiziellen Tatversion. Vor allem das Täterprofil Gundolf Köhlers gab ihm zu denken: Ein Student, der im Sommer noch auf Interrail-Tour durch Europa unterwegs gewesen war, der eine Band gründen wollte und einen Bausparvertrag abgeschlossen hatte, sollte der perspektivlose Einzeltäter sein?
Inzwischen weiß man längst, dass Köhler in Neonazi-Kreisen bestens vernetzt war, dass er vor Zeugen sogar über mögliche Anschläge sinniert hatte. Und dann war da noch Walter Ulrich Behle, ein Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann, der Anfang Oktober 1980 einem Barkeeper in Damaskus anvertraute: Das mit dem Anschlag – „das waren wir selbst.“ Er widerrief die Aussage später.
Eine Fülle an Fragezeichen, an losen Enden, die aus Chaussys Sicht nicht oder unzureichend weiterverfolgt wurden. Jetzt soll nach dem Willen von Generalbundesanwalt Range alles noch einmal auf den Tisch. Man will sich nicht wie im Fall der NSU-Morde erneut vorwerfen lassen, bei rechtem Terror wegzuschauen. Anlass war das Auftauchen einer Zeugin, die sich vor 34 Jahren schon einmal an die Polizei gewandt hatte, damals aber abgewimmelt wurde. Sie gab als Studentin in einer Unterkunft für Spätaussiedler Sprachunterricht. Im Spind eines Schülers entdeckte sie am Tag nach dem Anschlag zufällig einen Stapel Flugblätter. Der Inhalt: Ein „lobender Nachruf“ auf Gundolf Köhler. Und das, noch bevor der Name Köhlers öffentlich gemacht wurde!

„Irgendwann ist der Job des Journalisten beendet“

Ob die Frau letztlich die Wende in dem Fall bringen wird, ist offen. Chaussy ist aber optimistisch: „Ich meine, dass trotz so vieler verpasster Chancen die Möglichkeit besteht, weitere Täter und Hintermänner zu ermitteln und zu finden.“ Doch das sei nun Sache von Justiz und Polizei. „Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem der Job des Journalisten beendet ist.“ Doch er wäre nicht Ulrich Chaussy, würde er jetzt einfach die Hände in den Schoß legen. Für eine Dokumentation, die das Erste im Anschluss an Der blinde Fleck zeigt, hat Chaussy die neuen Ermittlungen begleitet und eigene Spuren weiterverfolgt.
Eine eigene Theorie, wie es hätte gewesen sein können, stellt Chaussy bewusst nicht auf. „Ich ziehe es vor, nicht vom Motiv her zu denken. Jemand, der sich für so ein Vorgehen entscheidet, versucht immer, die kleinen Fakten vor Ort in das große Bild einzusortieren – und dann lässt man das, was nicht reinpasst, einfach weg.“ Lieber lässt er die Fakten und Zeugenaussagen für sich sprechen. Und so wie es aussieht, werden ihm die Zeugen so schnell nicht ausgehen. „Es vergeht im Augenblick keine Woche, in der sich nicht irgendwer Neues meldet.“ Das alles auszuwerten und einzuordnen, sei eine langwierige Arbeit. Er mache aber gerade eine interessante Beobachtung: Mit größerem zeitlichen Abstand wachse offenbar die Bereitschaft vieler Zeugen, ihr Schweigen zu brechen. „Zwar wird die konkrete Erinnerung schwächer, aber die Neigung, überhaupt zu sprechen, wird ganz offenkundig jetzt erst richtig geweckt.“ (Wibke Heise) (Foto: Unbequeme Fragen: Der Journalist Ulrich Chaussy ließ nie locker; BR) Lesen Sie hier: Eine neue Zeugin erinnert sich

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