Leben in Bayern

Hannah Sartin und Carlo Krauß in ihrem OHNE-Laden in der Münchner Maxvorstadt. (Fotos: dpa/Amelie Geiger)

05.04.2019

Ein Leben ohne Plastik

In Bayern gibt es immer mehr Geschäfte, die unverpackte Waren anbieten – Pioniere des Trends: das Münchner Paar Hannah Sartin und Carlo Krauß

Mit dem ersten Kind änderte sich der Lebensstil von Hannah Sartin und Carlo Krauß radikal. Das Paar verschrieb sich der Zero-Waste-Kultur und versuchte fortan, ohne Müll zu leben. Seit 2016 betreiben die beiden in München auch einen verpackungsfreien Supermarkt. Das läuft so gut, dass sie jetzt einen zweiten Laden eröffnet haben.

Gerlinde Klepel hat schon oft durch die Scheiben gespäht. Beinahe täglich kommt die 63-Jährige vorbei. An diesem Tag aber schiebt sie zum ersten Mal entschlossen die Ladentür auf. Klepel hält eine hübsche, bunt bedruckte Kaffeebüchse in der Hand. Die Dose war ein Geschenk ihrer Mutter. Der Kaffee, der sich mal darin befand, ist längst getrunken. Seit Jahren steht sie bei Klepel leer herum. Nun aber soll sie wieder ihren Zweck erfüllen. Denn der Laden, den Klepel in der Münchner Schellingstraße betritt, ist ein verpackungsfreier Supermarkt.

„Es ist eine gute Idee. Die sollte man unterstützen“, sagt Klepel, während sie sich im Laden umsieht. Ein heller Raum, an den Wänden hohe Spender aus Glas, die gefüllt sind mit Nudeln, Haferflocken, Reis, Körnern oder Müsli. Passierte Tomaten oder Honig gibt’s im Glas. Rechts hinter dem Gemüse, wo ein paar Bistrotische stehen, liegen Brote in einem Holzregal. Süßigkeiten sind in Gläsern aufbewahrt wie zu Pippi Langstrumpfs Zeiten. Im hinteren Bereich des Ladens gibt es Zahnbürsten aus Bambus, Shampoo in Seifenform, gestapelte Rollen Klopapier und allerlei Haushaltsgegenstände aus Metall. Seife, Öl und sogar Wodka stehen zum Abfüllen bereit.

Strohhalm aus Metall, Schnuller aus Kautschuk

Das Geschäft wirkt wie eine Mischung aus Tante-Emma-Laden und Apotheke. Altmodisch einerseits. Zugleich aber sparsam eingerichtet im Clean Chic der Gegenwart. Schrille Werbeaufschriften oder vor Waren berstende Regale gibt es nicht. Und vor allem: kein Plastik. „OHNE“ heißt der Laden, der verpackungsfreie Ware anbietet. Als einer von rund hundert in ganz Deutschland. Hannah Sartin und Carlo Krauß haben ihn vor mehr als zwei Jahren eröffnet. Anfang des Jahres kam ein zweiter OHNE-Laden in München-Haidhausen dazu.

Die OHNE-Läden sind Teil der wachsenden Zero-Waste-Bewegung. Null Müll – so ganz stimmt das zwar nicht. Denn irgendwie müssen die Waren ja transportiert werden. Die Händler zum Beispiel, denen Sartin und Krauß die Lebensmittel abkaufen, verwenden Verpackungsmaterial. Aber die Einzelverpackungen, in denen Supermärkte und Discounter ihre Waren anbieten, fallen weg. Die Kunden füllen die meisten Waren in Behälter, die sie mitbringen. Das können alte Gurkengläser mit Schraubdeckel sein oder Einmachgläser. Man zapft sich Waschmittel in Flaschen, lässt Reis in eine Tupperdose rieseln und das Brot, das nackt über den Tresen gereicht wird, landet in der Stofftasche. Mozzarella dagegen kauft man im Glas.

In die Büchse von Gerlinde Klepel soll nun Kaffee. Ihr Büro ist nebenan. Gemeinsam mit ihren Kollegen hat sie beschlossen, künftig auf Kaffeeverpackungsmüll zu verzichten. Der Laden erinnert Klepel an ihre Kindheit. Damals hat sie sich die Kannen im Milchgeschäft füllen lassen und nach Hause geschleppt.

Der Kaffee befindet sich in einem der schönen Spendergläser, die Carlo Krauß selbst entworfen hat. Seine Frau Hannah Sartin liegt gerade mit den Kindern krank im Bett. Es ist ein ziemlicher Kraftakt für die kleine Familie, zwei Läden zu führen. Genauso, wie es nicht immer leicht war, auf Plastik zu verzichten. Die beiden haben das gut gelaunte Buch Wie wir es schaffen, ohne Müll zu leben: Zero Waste als Lifestyle darüber geschrieben. „Bis zum Tag von Emmas Geburt war uns unsere Umwelt alles andere als egal“, heißt es darin. Dann aber sei der Wunsch, etwas ändern zu wollen, plötzlich zu einer drängenden Notwendigkeit geworden.

Unnötig: eine Tüte für die Breze, die man gleich isst

Heute geht bei ihnen der Verpackungsmüllverzicht bis ins winzigste Detail. Kein Zentimeter Plastik ist zu unwichtig, um sich nicht eine Alternative zu überlegen. Die Schnuller der beiden Kinder waren zum Beispiel aus nachwachsendem Kautschuk. Und ist die Familie heute unterwegs, nimmt sie immer Strohhalme aus Metall mit. Hannah Sartin rührt ihre Kosmetik selbst an, sie putzt mit Backpulver und verdünntem Essig. Nur Medikamente werden gekauft, wie sie eben gekauft werden müssen: in den üblichen Plastiknäpfen und Tablettenpackungen.

Anderen verlangen Sartin und Krauß solch eine Strenge nicht ab. Sie wollen anregen – auch im Kleinen. Und so kommen längst nicht nur Puristen in den via Crowdfunding gegründeten Laden, sondern auch Leute, die ihren Großeinkauf bei Netto machen. Krauß, Bartträger im karierten Flanellhemd, rät den Kunden, erst mal zu schauen, was man zu Hause hat. Zero Waste für Einsteiger, erklärt er, geht so: Man verbraucht, was man hat. Repariert, was repariert werden kann. Und kauft nur das Nötigste. Dabei achtet man darauf, so wenig Verpackung wie möglich mit nach Hause zu nehmen. Im Zweifel, sagt Krauß, muss dann eben auch mal Nein gesagt werden. Zum Beispiel am Bäckertresen. Weil die Breze, die man kauft, nur dann eine Tüte braucht, wenn sie nicht sofort aufgegessen wird. Hannah Sartin und Carlo Krauß selbst nehmen sogar zur Auer Dult ein Schraubglas mit, um sich gebrannte Mandeln einfüllen zu lassen. „Die Umstellung auf einen müllfreien Alltag erfolgt in vielen kleinen Schritten, und jeder entscheidet selbst, wann er bereit ist, etwas aufzugeben oder auch nicht“, erklärt das Paar.

Etwas teurer als im Supermarkt sind die Waren im OHNE-Laden allerdings schon, die Preise rangieren in der Preisklasse inhabergeführter Bioläden. Die 24-jährige Studentin Annika Essmann kauft trotzdem dort ein – vor allem Trockenware. Fünf bis sieben Euro pro Woche gibt sie dadurch mehr aus, hat Essmann ausgerechnet. Das sei es ihr wert. Für 36 Euro hat sie diesmal eingekauft. Essmanns Rucksack ist randvoll mit Hülsenfrüchten, Trockenobst, Reis und Getreide. Alles in Gläsern und Dosen. Ein ziemliches Gewicht, das sie da auf dem Fahrrad nach Hause transportiert.

Übrigens: Haferflocken verkaufen sich im OHNE-Laden besonders gut. Vermutlich, weil sie relativ günstig sind. Natürlich könnte man darüber streiten, ob der Verzicht auf ein Haferflockentütchen pro Woche die Welt rettet. Oder dieser Verzicht nur vor schlechtem Gewissen schützt. Man kann das aber auch anders sehen. Ein kleiner Schritt ist immerhin: ein Schritt. Gerlinde Klepel wird mit ihrer Büchse voll Kaffee ins Büro zurückkehren. Und überlegt bereits, was sie sich künftig im Laden für Zu Hause abfüllen lässt.
(Monika Goetsch)

Fotos:
Auch Nudeln gibt’s zum Abfüllen.
Kunden füllen Lebensmittel in mitgebrachte Gläser ab.

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