Leben in Bayern

Im ländlichen Raum haben die Grünen bei der Landtagswahl viel eingebüßt – auch weil ihre Frontleute als „Stodterer“ wahrgenommen werden. (Foto: dpa/Kneffel)

05.04.2024

Ein neuer Daxenberger – schmerzlich vermisst

Die Grünen haben ein gehöriges Stadt-Land-Problem – nach außen gibt sich die Partei geschlossen, doch im Inneren brodelt es

Katharina Schulze hört zu. Man kann das durchaus mal erwähnen, denn immer wieder wird der Fraktionschefin der Grünen im Bayerischen Landtag ja vorgehalten, dass sie dies so gar nicht könne. Zuletzt beim Starkbieranstich am Nockherberg. Da hat ihr Maxi Schafroth in seiner Fastenpredigt noch erklärt: „Am Land punktet man mit Zuhören, Katha, schreib mit!“ Und zur Sicherheit noch hinzugefügt: „Zuhören ist das Gegenteil von reden.“ Das Gelächter im Saal war groß.

Jetzt sitzt Schulze also hier in Miesbach beim Bräuwirt – und hört zu. Sie hat einen Steinkrug dabei. Darauf: ihr Konterfei und der Schriftzug „Schulzes Stammtisch“. Darin natürlich ihr Erkennungsgetränk: Spezi. Schulzes Stammtisch ist ein neues Format der Grünen, das in Miesbach an diesem Abend Premiere feiert. Das Ziel ist es, die Grünen wieder verstärkt mit dem Land ins Gespräch zu bringen. Zwei Welten, die sich zunehmend voneinander entfernt haben.
Bei der Landtagswahl 2023 hat man es gesehen: In München-Mitte haben die Grünen 44,1 Prozent geholt, keine Verluste gegenüber 2018. Im Stimmkreis Regen, Freyung-Grafenau, waren es gerade noch 4,3 Prozent – kaum mehr als die Hälfte des Ergebnisses von 2018.

Rund 70 Gäste sind zum Bräuwirt gekommen. Schulze, rotes Kleid, offenes Lachen und immer mal wieder die Hand auf dem Herzen, stellt sich kurz in die Mitte der Stube. „Bei eich is einfach schee“, sagt sie. Und erklärt: Sie wolle nicht drei Stunden lang die Welt erklären, sondern werde jetzt von Tisch zu Tisch gehen. „Und dann reden wir einfach miteinander.“

Hat man noch das Zeug zur Volkspartei?

An den Tischen geht es dann um TikTok, Anbindehaltung, Rechtsextremismus und den ganzen Rest. Dass Schulze, die nach der Wahl den alleinigen Fraktionsvorsitz übernommen hat, nun ein solches Format startet, kommt nicht von ungefähr. Wie haltet ihr’s mit dem Land, lautet derzeit die grüne Gretchenfrage. Letztlich geht es darum, ob die Grünen noch das Zeug zur Volkspartei haben, als die sie sich in den letzten Jahren bereits wähnten.

Woran liegt es, dass die Grünen auf dem Land keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen? Fragt man Thomas Gehring, bis zum Herbst selbst noch im Landtag, sagt er: „Die Berliner Politik trifft die Lebensrealität auf dem ländlichen Raum oft nicht mehr.“ Das ursprünglich im Heizungsgesetz seines Parteifreunds Robert Habeck geplante Verbot von Holzheizungen hat Gehring beispielsweise sehr geärgert. Gehring kommt aus dem Oberallgäu. Bei der Wahl waren es die Verluste auf dem Land, die letztlich dafür sorgten, dass er den Wiedereinzug ins Parlament knapp verpasst hat. „Wir hätten uns früher von der Bundespolitik absetzen müssen“, sagt Gehring jetzt.

Andere Grünen-Politiker auf dem Lande, die nicht namentlich genannt werden wollen, sind weniger höflich. Auch die eigenen Leute auf Landesebene werden nicht immer aus der Verantwortung für das Wahlergebnis entlassen: Das bayerische Spitzenpersonal funktioniere im ländlichen Raum einfach nicht, sagt eine grüne Kommunalpolitikerin. „Die haben nicht das Format.“

Das könnte auch mit einer thematischen Kluft zu tun haben, die sich ebenfalls durch die grüne Welt zieht. So sind die Grünen wie auch ihre Wähler*innen auf dem Land in der Regel deutlich wertkonservativer als in der Stadt. Zum Beispiel Claudius Rafflenbeul-Schaub: „Ich bin bei den Grünen in erster Linie wegen Umweltpolitik beigetreten“, sagt der 47-Jährige aus dem Ortsverband Tegernseer Tal. „Aber wenn man sich jetzt die Entwicklung in den Städten anschaut, da geht es in unserer Partei oft mehr um Identitätspolitik und Kulturkämpfe als ums Klima oder bezahlbare Wohnungen. Das sehe ich kritisch. Und ich glaube, dadurch verprellen wir auch Wähler.“

Ähnlich empfindet das auch Wolfgang Rzehak aus demselben Ortsverband. Von 2014 bis 2020 war er Landrat in Miesbach, der erste grüne Landrat in Deutschland überhaupt. „Man gewinnt die Wahlen in der Stadt, aber verlieren tut man’s auf dem Land“, warnt er. In den letzten zehn bis 20 Jahren hätten die Grünen in Bayern viel erreicht, auch auf dem Land. „Einiges davon ist jetzt kaputtgegangen.“ In der Tat hat die Partei in den letzten fünf Jahren eine erstaunliche Entwicklung gemacht: Die Mitgliederzahl hat sich fast verdoppelt, auf aktuell knapp 22 000. Von den 551 Ortsverbänden gab es 229 bei der Landtagswahl 2018 noch gar nicht. Auch jetzt kommen allen Anfeindungen zum Trotz ständig Mitglieder dazu – auch auf dem Land. Die Ausgangslage, dort Gesicht zu zeigen, wäre also gar nicht so übel.

Die neue Hoffnung der bayerischen Grünen liegt nun auf Sondermoning. Oder sitzt vielmehr dort in der Stube an dem großen Esstisch. Gisela Sengl heißt sie, ist Biobäuerin, bewirtschaftet in dem kleinen Dorf im Chiemgau mit ihrem Mann einen Hof. Nicht besonders groß. 10 Hektar, weitere 10 haben sie dazugepachtet.
Seit 27. Januar ist Sengl Chefin der bayerischen Grünen. Nachdem sie in einer Kampfabstimmung beim Parteitag in Lindau zunächst gegen die bisherige Landesvorsitzende Eva Lettenbauer knapp unterlegen war, hatte sie sich in einer zweiten gegen Lettenbauers damaligen Co-Vorsitzenden Thomas von Sarnowski durchgesetzt. Die 63-Jährige hatte sich klar als Alternative vom und fürs Land präsentiert.

„Ich glaub’, dass Gisela Sengl der Partei total guttut“, sagt Mia Goller, Landtagsabgeordnete aus Niederbayern. Und ihr Kollege Johannes Becher, inzwischen Katharina Schulzes Stellvertreter, spricht von einer „ganz starken Kandidatin, die die Menschen mitnimmt“. Äußerungen, die interessant sind, schließlich war man in der Fraktion gegen Sengl. Vor allem Schulze hatte sich öffentlich für das bisherige Duo Lettenbauer-Sarnowski ausgesprochen. Einzig Schulzes früherer Co-Vorsitzender Ludwig Hartmann plädierte für Sengl.

Der Unmut ist groß außerhalb der Metropolen

Man habe in Lindau schon eine gewisse Spaltung zwischen Stadt und Land feststellen können, erzählt Thomas Gehring. Während die einen, die aus der Stadt, eher dafür plädiert hätten, weiter wie bisher zu machen, hätten sich die anderen stärkere Konsequenzen aus dem Wahlergebnis gewünscht.
Sengl ist nicht irgendwer in der Partei. Zehn Jahre lang saß sie im Landtag, sie kennt den Politikbetrieb. Dass sie nicht mehr im Parlament sitzt, hat auch sie den Verlusten auf dem Land zu verdanken – und wohl dem Umstand, dass sie es versäumt hat, auf den Wahlzettel die bei der Klientel beliebte Berufsbezeichnung „Biobäuerin“ schreiben zu lassen. „Wir müssen raus aus dem Landtag, raus aus unserer grünen Blase“, sagt Sengl jetzt. Heißt natürlich auch: raus aufs Land.

Dort gibt es tatsächlich viel Unmut in der Partei. So kritisieren viele die mangelnde Präsenz der ländlichen Grünen im Parlament. „Wie sollen die Ideen vom Land in den Landtag kommen, wenn dort keine Leute vom Land sitzen?“, fragt ein oberbayerischer Kommunalpolitiker. Tatsächlich standen auf der wichtigsten Liste bei der Landtagswahl, der des Wahlkreises Oberbayern, unter den ersten 14 nur drei Kandidaten aus einem Stimmkreis, der nicht mit der Münchner S-Bahn zu erreichen ist. Und von denen schaffte es nur einer in den Landtag.

Und damit zu Sabeeka Gangjee-Well und Hans Well nach Türkenfeld, in den Westen Münchens. Sie ist Sprecherin des Grünen-Ortsverbands, Gemeinderätin und Dritte Bürgermeisterin. Er ist vor allem bekannt als einer der drei Brüder der Biermösl Blosn, die bis 2012 jahrzehntelang durch die Lande zogen, oft gemeinsam mit Gerhard Polt.

Es gibt Tee und Kekse und deutliche Worte. Seit Jahrzehnten begleitet Well Bayerns Politik als schonungsloser Beobachter. Für die Biermösl Blosn schrieb er die Texte. Meist hat es damals die CSU abgekriegt, nicht selten auch wegen Umweltthemen: Rhein-Main-Donau-Kanal, Wackersdorf, Isentalautobahn. Eigentlich müsste man meinen, der Mann steht den Grünen besonders nah. Stand er auch mal.

Sabeeka Gangjee-Well kam über einen Supermarkt in die Politik. Der sollte in Türkenfeld auf der grünen Wiese gebaut werden. Als Gangjee-Well davon erfuhr, engagierte sie sich mit ein paar Mitstreiter*innen gegen das Projekt. Am Ende wurde der Supermarkt nicht gebaut, aber Gangjee-Well saß im Gemeinderat.
Bei den Grünen ist sie erst seit 2019. Und dennoch hat sich bei der 55-Jährigen schon so etwas wie Resignation breitgemacht. Initiativen der Basis würden hier schnell mal von der nächsthöheren Ebene ausgebremst. Inzwischen beschränkt sich Gangjee-Well nur noch auf die Arbeit in der Gemeinde.

Während seine Frau resigniert, singt Hans Well bisweilen noch gegen den Frust an. So wie letztes Jahr im September. Da trat er auf einer Abschiedsfeier für scheidende Landtagsabgeordnete der Grünen auf. Für den Großteil der Fraktion war es eine gesungene Watschn: „Heit hot mi’s Schicksal in eine Fraktion verschlogn, wo’s vui Abgeordnete, aber koane Charakterköpf wia an Daxenberger hom, wo ma si zfriedn gibt mit Wähler in da Stod und den Kampf ums Land längst aufgebn hod.“ Katharina Schulze soll den Auftritt dem Münchner Merkur zufolge gar nicht mal so witzig gefunden haben.

„Fast nur noch stromlinienförmige Typen“

Mei, enttäuschte Liebe, entschuldigt Hans Well seine Härte. Im dunkelgrünen Pullover sitzt er da und schimpft gleich weiter: Das Grundproblem der Grünen sei, dass sie die Graswurzelbewegung verloren hätten. „Das Versagen der grünen Partei ist, dass man heute fast nur noch auf stromlinienförmige Typen setzt, die wunderbar die Sprechblasen beherrschen.“

Einen wie Sepp Daxenberger bräuchte man jetzt, sagen viele, auch Well, der mit ihm befreundet war. Der habe die Wertkonservativen abgeholt. Bauer, Goaßlschnalzer, Bürgermeister, Partei und Fraktionschef – der 2010 gestorbene Politiker aus Waging konnte die Kluft zwischen Stadt und Land überbrücken wie wohl kein zweiter.

Stattdessen haben die Grünen nun Katharina Schulze. Fragt man auf dem Land nach ihr, sind die Antworten durchwachsen. Ein absolutes politisches Ausnahmetalent, sagen die einen. Eine superschlaue, vorlaute Städterin, die anderen. Und das sind auch die, die dann ganz schnell noch das Smartphone zücken und den Instagram-Kanal der bayerischen Grünen öffnen: Zwölf Bilder sind zu sehen, auf elf von ihnen „die Katha“. Dieser Zuschnitt auf eine Person erinnere sie schon sehr an Söder und Aiwanger, sagt eine. Die Grünen, sei das nicht mal die Partei der Vielfalt gewesen? (Dominik Baur)
 

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