Leben in Bayern

Antje Heinrich und Peter Englert proben das aktuelle Stück „Eine Frage der Zeit“. (Foto: Christ)

23.11.2018

Eine Bühne voll mit purer Lebenslust

Seit 20 Jahren machen in Würzburg Menschen mit geistigem Handicap professionell Theater – eine Truppe, die bis heute in Bayern einzigartig ist

Die Vorstellungen sind immer ausverkauft. Das Theater „Augenblick“, in dem Menschen mit und ohne Behinderung auf der Bühne stehen, hat Stefan Merk gegründet. Er bedauert, dass sein Projekt noch immer eine große Ausnahme ist. Das Problem: die Finanzierung. Das Würzburger Ensemble ist das einzige inklusive Theater, das vom Freistaat gefördert wird – es war ein langer Kampf.

Es war vor 20 Jahren etwas aufregend Neues. Und hat bayernweit bis heute keine echte Tradition. Im „Theater Augenblick“ der Mainfränkischen Werkstätten machen Menschen mit und ohne Behinderung Theater. Anspruchsvoll und professionell. „Wir konnten acht Arbeitsplätze für Schauspieler schaffen“, berichtet Stefan Merk, der das „Theater Augenblick“ 1998 gründete. Bis heute sucht die Truppe im Freistaat ihresgleichen. Was daran liegt, dass es extrem schwierig ist, inklusives Theater zu finanzieren.

Merk hat nach den langen „Augenblick“-Jahren nicht nur viel Übung im Umgang mit geistig behinderten Schauspielern gewonnen. Er ist auch ein geübter Kämpfer für die Idee Inklusion im Kulturbereich. „Dass wir noch immer eine Ausnahme in Bayern sind, finde ich schade“, sagt er. Eigentlich wollen doch alle Inklusion. Die Politik hat sich das Miteinander aller Menschen auf die Fahnen geschrieben. Aber auch viele Bürgerinnen und Bürger sind längst davon überzeugt, dass noch mehr getan werden müsse, um Ausgrenzung zu verhindern.

Zwei bis drei Jahre wird ein neues Stück geprobt

Eben diese Überzeugung sorgt für hohen Zulauf beim „Augenblick“. „Unsere Veranstaltungen sind immer ausverkauft, es gibt seit 20 Jahren ungebrochen einen regelrechten Run“, berichtet Merk. Die Geschichten, die im „Theater Augenblick“ erzählt werden, berühren. Sie sind leicht nachvollziehbar. Nie braucht es lange, bis der Funke ins Publikum überspringt. Weil die Theaterstücke so großen Anklang finden, gelingt es, die Löhne für die Schauspieler zu erwirtschaften. Allerdings braucht es darüber hinaus noch ziemlich viel Geld. Und das zu akquirieren, ist seit 20 Jahren ein mühsames Geschäft.

Liebe, Traurigkeit, Verzweiflung und pure Lebenslust –  es sind immer „große Gefühle“, die auf die „Augenblick“-Bühne kommen. Ausgedrückt werden die Emotionen von Darstellerinnen und Darstellern, die das, was sie zeigen, genau so empfinden. Die acht Männer und Frauen haben nicht das „Talent“, sich völlig zu verstellen. Sich zu verbiegen. Die eigene Persönlichkeit ad acta zu legen. Das macht jede Vorstellung authentisch. Und diese Authentizität zieht an.

Bis es zur ersten Vorstellung eines neuen Stücks kommt, vergehen oft zwei bis drei Jahre. „In dieser Zeit machen wir ganz verrückte Sachen“, sagt Merk und lacht. Er und seine hauptamtliche Kollegin Janine Schellein kitzeln über Improvisationen heraus, was die Schauspieler gerade bewegt. Das geschieht verbal und vor allem nonverbal. Was sich allmählich als Thema für das nächste Stück herauskristallisiert, soll alle gleichermaßen interessieren: die behinderten und die nichtbehinderten Theatermacher.

Durch den langsamen Prozess des Sich-Herantastens entstand zum Beispiel das Stück Himmel, Hölle und die Lust am Leben zum Thema „Abtreibung“. Sollte man einem behinderten Menschen nicht das Schicksal ersparen, auf die Welt zu kommen? Muss man als Eltern wirklich das Opfer auf sich nehmen, ein behindertes Kind in die Familie zu integrieren? Solche Fragen stellen sich umso drängender, je größer die medizinischen Fortschritte sind.

Auch die Eltern von Schauspieler Jan Simanzik waren mit diesen Fragen konfrontiert. Die Mutter sagte schließlich klar „Ja!“ zu ihrem Kind. Der Vater nicht. Er lehnte Jan bereits vor der Geburt ab. Was der junge Mann weiß. Und was ihn bis heute beschäftigt.

Auch die Eltern der fiktiven Figur Tim, die Simanzik in Himmel, Hölle und die Lust am Leben spielt, hatten sich nicht vorstellen können, jemals Zuneigung zu dem Kind zu entwickeln, das, wie sie wussten, behindert zur Welt kommen würde. Sie entschieden sich gegen ihn. Der Zuschauer begegnet dem liebenswerten, stets zu Streichen aufgelegten Jungen nach seinem Abtreibungstod im Himmel. Wo das Kind einen großen Wunsch hegt: Es möchte noch einmal in den Mutterbauch, endlich geboren werden und leben.

Nichtbehinderte, die keinerlei Berührung mit beeinträchtigten Menschen haben, glauben häufig, dass es ein wahrer Albtraum sein müsse, sich nicht frei bewegen zu können, nur eingeschränkt denken oder nicht sehen zu können. Himmel, Hölle und die Lust am Leben mahnt: Nichtbehinderte dürfen sich nicht anmaßen zu entscheiden, ob Menschen mit Handicap das Leben lieben. Ob sie glücklich sind. So, wie sie sind. Oder ob sie darunter leiden. Kein Leben ist nur Zuckerschlecken.

In nahezu jedem Stück, das auf die Bühne gebracht wird, steckt gesellschaftspolitische Brisanz. Auch in der jüngsten Produktion, die vor einem Jahr uraufgeführt wurde. Eine Frage der Zeit heißt sie und handelt vom Beschleunigungswahn. Das letzte noch nicht von den Segnungen der Digitalisierung beglückte Dorf soll ans Internet angeschlossen werden. Doch die Einwohner wehren sich.

„Wir waren, während dieses Stück entstand, mit unserer Gruppe selbst in einem Dorf, in dem es keine Internetverbindung gab“, erzählt Merk. Für Schauspieler Alexander Ellebruch ein unhaltbarer Zustand. Wie er sich darüber aufregte! Genau diese Aufregung wurde später ins Stück integriert. Dass die Digitalisierung Chancen bietet, ist unbestritten. Doch was zerstört sie? Wozu treibt sie uns? Diesen Fragen geht das Ensemble, wie immer mit reichlich Fantasie und viel berührender Musik, in Eine Frage der Zeit nach.

Zeitgeistphänomene zur Diskussion stellen, ungute Entwicklungen entlarven, Alternativen andeuten –  all das schafft das „Augenblick“ auf seine ganz eigene, spezielle Art und Weise. Alles begann ganz klein, erzählt Merk. „Als ich vor über 20 Jahren in den Sozialdienst der Mainfränkischen Werkstätten einstieg, übernahm ich die Freizeitgruppe Theater.“ Mit großem Erfolg wurde ein erstes Stück aufgeführt. Daraus entstand die Idee, einen eigenen Arbeitsbereich Theater zu schaffen. Am 8. Oktober 1998 brachten die Akteure ihr erstes Stück auf die Bühne eines Off-Theaters. Das war die Geburtsstunde des „Augenblick“.

 Zu jener Zeit mussten Schauspieler, Requisiten und sonstiges Equipment noch von Ort zu Ort transportiert werden. Das „Augenblick“ trat auf befreundeten Bühnen, Festivals und einmal sogar im Nürnberger Zoo auf. „Ich spielte damals einen Papagei“, erinnert sich Peter Englert, Schauspieler der ersten Stunde. Sechs Jahre lang war das Theater auf Wanderschaft. Diese Zeit hat Merk als sehr anstrengend in Erinnerung: „Einmal mussten wir vor der Vorstellung sogar aufs Dach klettern, um ein Dachfenster abzukleben, denn wir brauchten es ja drinnen dunkel.“

Acht Schauspieler haben einen festen Arbeitsplatz

Die Zahl der Fans wuchs, und auch das Glück war dem Ensemble hold. Die Mainfränkischen Werkstätten entschieden, im Würzburger Stadtteil Lengfeld ein neues Gebäude zu errichten: „Dadurch bekamen wir 2004 endlich eine eigene Bühne.“ Um die 35 Vorstellungen gibt es dort jedes Jahr. Mehr wären, was die Fans anbelangt, möglich. Der begrenzende Faktor aber sind die hauptamtlichen Personalstunden. Merk: „Wenn wir zu viel spielen, haben wir zu wenig Zeit, um ein neues Stück zu entwickeln.“

Dass das „Augenblick“, anders als viele andere inklusive Theaterprojekte, die nach kurzer Zeit wieder eingingen, seit 20 Jahren durchhält, hat noch einen wichtigen Grund: „Seit 2014 werden wir vom Freistaat institutionell gefördert.“ Lange kämpfte der Theaterleiter darum. Für diese Förderung ist das Ensemble bis heute sehr dankbar. Doch letztlich reicht das Geld immer noch nicht.

Dabei wären Mittel da. 70 Millionen Euro, so Merk, gibt der Staat für institutionelle Theaterförderung in Bayern aus. Sein Theater erhält 27 000 Euro für Personalkosten des nichtbehinderten Personals, für Requisiten, Kostüme und Bühnenbild. Merk hat ausgerechnet: Damit fließen bayernweit nur 0,05 Prozent der Mittel in inklusives Theater. Allerdings hat etwa jeder zehnte Mensch in Bayern eine Behinderung. Daran lässt sich ablesen, wie ungleichgewichtig die Förderung ist, betont er.

In Berlin fließen laut Merk etwa fünf Millionen Euro an Theater, die Schauspielerinnen und Schauspieler mit einem Handicap beschäftigen. Dadurch ist hochprofessionelle inklusive Theaterarbeit möglich. Zwei Ensembles, das Theater Thikwa und das Ramba Zamba, haben es dadurch zu bundesweitem Renommee gebracht.
(Pat Christ)

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