Leben in Bayern

Vorher/Nachher: Patricia Ziegler strahlt nach ihren Operationen (rechts). Davor litt sie jahrelang an den Auswirkungen des Lipödems (links). (Fotos: Privat)

27.01.2023

Eine Volkskrankheit ohne Lobby

In München gibt es eines der wenigen deutschen Zentren, in denen Lipödeme, krankhafte Fettverteilungsstörungen, behandelt werden – auch Patricia Ziegler wurde dort geholfen

Patricia Ziegler kann sich nicht erinnern, wann sie das erste Mal wegen ihrer Figur gemobbt worden ist. „Irgendwie war es immer Thema“, sagt sie. Mitschüler*innen riefen ihr zu, sie solle „weiterrollen“, auf dem Parkplatz wurde sie als „fette Kuh“ beschimpft und ihr Hausarzt gab ihr den Ratschlag, mehr Sport zu treiben, denn sie sei ja schon, nun ja, übergewichtig. „Dabei habe ich zu diesem Zeitpunkt“, sagt sie, „sechs Mal die Woche Sport gemacht.“ Über diesen Arzt ärgert sich die 27-Jährige heute noch. „Hätte er mich aufgrund meiner Figur nicht gleich in eine Schublade gesteckt, hätte ich vielleicht eher erfahren, was mit mir los ist.“

Die Münchnerin sitzt in schwarzer Hose und rosa Strickpullover in ihrer Dachgeschosswohnung und durchsucht ihr Handy nach Fotos von früher. Sie ist in der Pubertät, als ihr Körper, so beschreibt sie es, schleichend explodiert. Über die folgenden Jahre werden ihre Arme und Beine immer dicker, Oberkörper und Taille hingegen bleiben schlank. Die Account-Managerin versucht es mit Diäten und noch mehr Sport, aber nichts hilft. Beim Hosenkauf ist nicht mehr die Bundweite entscheidend, sondern ob sie das Hosenbein über die Waden bekommt. Stiefel kommen überhaupt nicht mehr infrage. Binnen fünf Jahren nimmt sie 10 Kilo zu. Sie zeigt ein Foto, auf dem ist sie Anfang 20 und trägt ein weites, langes Kleid. „Ich habe mich immer mehr versteckt“, sagt sie.

Wenig hilfreiche Ratschläge der Ärzt*innen

Auch gesundheitliche Probleme machen sich bemerkbar. Beim Laufen beginnen ihre Beine zu pochen und zu dröhnen, zudem sind sie stark druckempfindlich. „Auch wenn ich mich nur leicht angestoßen habe, hatte ich Schmerzen, als hätte mir jemand ein Messer ins Bein gerammt.“ Es gab Tage, sagt sie, da habe sie nur geweint. „Ich wusste nicht, warum mein Körper so ist, wie er ist.“ Immer wieder sucht sie bei Ärzt*innen Rat, immer wieder bekommt sie zu hören, sie solle einfach ihre Ernährung umstellen und sich mehr bewegen. „Übersetzt haben sie mir also gesagt: Du hast selbst schuld an deinem Zustand. Und letztlich habe ich ihnen geglaubt.“ Dass sie krank ist, weiß Patricia Ziegler in all den Jahren nicht.

Erst 2020 kommt sie dank eines Fernsehbeitrags über Lipödem-Betroffene ihrer Krankheit auf die Spur. „Von einer Krankheit namens Lipödem hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nie gehört“, sagt sie. „Aber in den Schilderungen der Frauen habe ich mich zu 100 Prozent wiedererkannt.“ Ob sie vielleicht auch diese Krankheit habe, habe sie sich gefragt. Da ihr weder ihr Hausarzt noch ihre Gynäkologin weiterhelfen können („Welche Krankheit soll das sein?“), sucht sie im Internet nach einem Facharzt für Gefäßerkrankungen. Dieser diagnostiziert bei Patricia Ziegler ein Lipödem im zweiten, mittelschweren Stadium.

Das Lipödem ist eine chronische Fettverteilungsstörung, die fast ausschließlich Frauen betrifft. Dabei kommt es zu einer Vermehrung und Vergrößerung der Fettzellen vor allem an den Beinen, Hüfte und Gesäß, in manchen Fällen auch an den Armen. Typisch für ein Lipödem ist, dass die einzelnen Körperteile in einem Missverhältnis zueinander stehen. Im Extremfall trägt eine betroffene Frau eine Bluse in Größe S und eine Hose in Größe XXL. Dazu kommen Spannungsgefühle und Schmerzen, da sich Wasser zwischen den Fettzellen einlagert und diese Ödeme auf das umliegende Gewebe drücken.

Die Krankheit ist in drei Stadien unterteilt. Im dritten und schwersten Stadium bildet das verhärtete Fettgewebe ausgeprägte Fettwülste vor allem an den Knien und Oberschenkeln, die das Gehen zunehmend erschweren. Für Bayern gibt es keine Zahlen. In Deutschland sind zwischen 2 und 3,8 Millionen Menschen an einem Lipödem erkrankt. „Genau lässt sich das nicht sagen – weil wir bei dieser Krankheit immer noch eine Dunkelziffer haben“, sagt Laszlo Kovacs, Facharzt für Chirurgie und Plastische Chirurgie und Leiter des Lipödem-Zentrums in München, eines der wenigen Zentren in Deutschland. Das Lipödem werde deshalb häufig nicht erkannt, weil diese Krankheit nicht über einen einfachen Test diagnostiziert werden könne, sondern nur über ein Ausschlussverfahren, erklärt Kovacs.

Claudia Götzinger, Leiterin einer Lipödem-Selbsthilfegruppe in Olching, kennt viele Geschichten von Frauen, die oft jahrzehntelang gelitten haben, ohne dass die Ärzte die Krankheit erkannten. „Das Lipödem steht nicht auf dem Lehrplan, von daher wissen viele Ärzt*innen nichts über diese Krankheit“, sagt sie. „Dem Lipödem fehlt die Lobby.“ Auch die 54-Jährige selbst hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich, bis bei ihr ein Lipödem diagnostiziert und sie dann entsprechend behandelt wurde.


Selbsthilfegruppe organisiert Veranstaltungen

Rund 80 Mitglieder hat die Gruppe, die sich regelmäßig trifft, um Erfahrungen auszutauschen, sich Mut zuzusprechen und sich gegenseitig zu helfen. Zudem finden in der Gruppe Fachveranstaltungen und Vorträge statt, es wird Wassersport und Entstauungsgymnastik angeboten. „Wir setzen uns füreinander ein“, sagt Claudia Götzinger, und das sei auch deshalb so wichtig, weil sich der Alltag für Lipödem-Erkrankte zunehmend schwieriger gestalte. Als Beispiel nennt sie die Kompressionsstrumpfhose. Zwei Strumpfhosen im Jahr bezahlt die Krankenkasse. Neuerdings aber müssten die Patientinnen bis zu 100 Euro pro Strumpfhose zuzahlen. „Das kann sich nicht jeder leisten.“

Ohne geht es aber auch nicht. Die Kompressionswäsche ist neben der manuellen Lymphdrainage der wichtigste Baustein einer konservativen Lipödem-Therapie. Beides soll die Beschwerden lindern und das mögliche Fortschreiten der Krankheit verhindern. Geheilt werden kann das Lipödem nicht.

Patricia Ziegler hat ihre Kompressionsstrumpfhose insofern geholfen, als dass die Krankheit nicht schlimmer wurde. Wesentlich besser ging es ihr aber auch nicht, weshalb sich die Münchnerin ein Jahr nach ihrer Diagnose zu einer Liposuktion entschloss. Dabei werden die krankhaften Zellen mittels Fettabsaugung entfernt. Fachleute empfehlen die Liposuktion dann, wenn bei einer Patientin konservative Maßnahmen nicht ausreichen, um die Krankheit in den Griff zu bekommen. „Nach heutigem Stand ist die Liposuktion die einzige Methode, die wir haben, um erkrankte Körperregionen gezielt und dauerhaft zu entlasten“, sagt Kovacs.

Nicht jede Patientin, die Schmerzen hat, kann sich operieren lassen. Manchmal sprechen medizinische Gründe dagegen, manchmal aber fehlt es schlicht am Geld. In der Regel sind beim Lipödem mehrere Eingriffe notwendig, die Kosten liegen pro OP zwischen 3000 und 8000 Euro. Seit 2020 und dem Beginn einer Erprobungsstudie, die die Effektivität der Liposuktion beim Lipödem untersucht, zahlt die Krankenkasse die Operationen. Infrage hierfür kommen allerdings nur Patientinnen mit einem Lipödem im Stadium 3 und einem Body-Mass-Index von unter 35 beziehungsweise unter einer weiteren Auflage, dass zusätzlich die Adipositas behandelt wird, bis 40.

Diese Einschränkung ist unter Fachleuten und Patientenorganisationen umstritten. Zu viele Erkrankte würden ausgeschlossen, kritisieren sie. „Auch ich war für die Krankenkasse nicht krank genug“, sagt Patricia Ziegler. Um die 18 000 Euro für ihre drei Operationen bezahlen zu können, hat sie einen Kredit aufgenommen.


Bewusster Gang an die Öffentlichkeit

Ihre letzte OP ist jetzt fast ein Jahr her. „Es war kein Spaziergang“, sagt sie. „Diese Operationen sind heftig und es dauert lange, bis man sich wieder erholt.“ Ihre Erfahrungen hat sie damals auch auf ihrem Instagram-Account beschrieben. Sie erzählt von ihren Zweifeln und psychischen Problemen nach der OP, von den Schmerzen und von Problemen, auf die Toilette zu gehen. Es ist ein ungeschönter Bericht, auch mit Fotos. Eines zeigt ihr operiertes Bein: Es ist mit tiefroten Flecken übersät. „Ich bin bewusst an die Öffentlichkeit gegangen, um dafür zu sorgen, dass diese Krankheit bekannter wird“, sagt Patricia Ziegler.

Von den Operationen sagt sie heute, dass dieser Schritt die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen sei. „Ich habe keine Schmerzen mehr und fühle mich endlich wohl in meinem Körper.“ Jetzt mache es ihr wieder Spaß, Sport zu treiben, sich mit Freunden zu treffen oder mit ihrem Mann spazieren zu gehen. Sie gehe jetzt auch mit neuem Selbstbewusstsein durchs Leben. „Früher habe ich in den Spiegel gesehen und mich geschämt. Heute bin ich stolz auf mich.“

Was bleibt, ist die Angst vor der Rückkehr des Lipödems. Regelmäßig misst die Münchnerin den Umfang ihrer Oberarme und Oberschenkel und achtet penibel auf ihr Gewicht. „Nehme ich auch nur 2 Kilo zu, bekomme ich eine Panikattacke.“ Sie wisse, dass die OP kein Allheilmittel ist. „Ich weiß, ich bin nicht geheilt“, sagt sie. „Aber ich habe jetzt einen Weg gefunden, mit der Krankheit zu leben.“ (Beatrice Oßberger)
 

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