Leben in Bayern

Michael Spitzenberger und sein Team haben einen Ort geschaffen, an dem sich Menschen etwas von der Seele reden können. (Foto: Stumberger)

15.03.2024

Endlich mal mit jemandem sprechen können

Seit einigen Monaten steht auf dem Münchner Stephansplatz ein sogenannter Zuhörraum – dort können einsame Menschen Gespräche mit Ehrenamtlichen führen

In Momo, einem Roman des Schriftstellers Michael Ende, geht es um sogenannte Zeitdiebe, das sind graue Herren, die den Menschen ihre Zeit stehlen. Gerettet werden diese durch ein kleines Mädchen – eben Momo – , das die Gabe hat, besonders gut zuhören zu können. Und von dieser Geschichte ließ sich Michael Spitzenberger zur Gründung des gemeinnützigen Vereins „momo hört zu“, der sich für eine „Zuhör- und Wertschätzungskultur“ einsetzt, und zu seinem Zuhörraum anregen. Der Raum ist grün angestrichen, steht auf dem Münchner Stephansplatz und alle können eintreten und ihre Probleme, ihr Leben oder ihre Wünsche erzählen. Ihnen gegenüber sitzt dann jeweils ein Mitglied des Vereins – vor allem, um zuzuhören. „Manchmal dauert ein Gespräch eine Stunde lang“, sagt Spitzenberger.

Ein Montagnachmittag vor der kleinen Kirche St. Stephan neben dem Eingang zum Alten Südfriedhof. Der kleine Holzbau davor sieht aus wie ein Kiosk, hat ein großes und ein kleines Fenster und eine Tür. Drinnen sieht man eine Espressomaschine stehen, draußen steht in großen Buchstaben „Zuhörraum“. Eine junge Frau geht vorbei, bleibt stehen und guckt neugierig, um was es sich da wohl handelt.

80 bis 100 Menschen kommen jede Woche

Hätte sie etwas zu erzählen oder wollte sie eine Sorge teilen, hier wäre ein Ort dafür: von Montag bis Freitag jeweils von 12 bis 18 Uhr. Einfach hineingehen, sich in dem kuschelig anfühlenden kleinen Raum auf die Holzbank setzen und dem Gegenüber – dem Zuhörer oder der Zuhörerin – etwas erzählen. Die Geschichte des eigenen Lebens zum Beispiel. Oder auch von einer Krankheit. Oder auch nur ein bisschen plaudern und einen Kaffee dazu trinken.

Von diesem Angebot machen etliche Gebrauch: „Hierher kommen 80 bis 100 Leute in der Woche“, weiß Initiator Spitzenberger zu erzählen. Damit die Menschen im Zuhörraum etwas erzählen können, braucht es eben aber auch Zuhörer*innen. Eine davon ist Barbara Weber. Einmal in der Woche sitzt sie drei Stunden im Holzkiosk und ist bereit, sich die Geschichten der Menschen anzuhören.

Und um welche Themen geht es dabei? „Einmal kam ein junger Mann“, erzählt die Zuhörerin, „der hatte Angst, seinen Führerschein zu verlieren, weil in seiner WG Drogen gefunden wurden.“ Er hat dann sein Leben erzählt und sich am Schluss dafür bedankt. Oder da war die Frau, einsam und krank, die sich viel von der Seele redete. Einmal wurde auch ein zwölfjähriger Bub von seiner einkaufenden Mutter im Zuhörraum quasi „zwischengeparkt“. „Wir haben uns dann über seine Leidenschaft fürs Basketball unterhalten“, erinnert sich Barbara Weber.

Für sie selbst bedeutet ihr Engagement ein „Ankämpfen gegen das Verstummen in der Gesellschaft“. Seit der Corona-Krise seien ja Freundschaften auseinandergegangen, manche sprechen nicht mehr miteinander. Es gehe um ein „offenes Ohr“ für andere Menschen und darum, diesen „Zeit zu geben“.

Zuhörkiosk als Inspirationsquelle

Wie ist Initiator Michael Spitzenberger auf die Idee gekommen, einen „geschützten Ort des Zuhörens, in dem Zeit, Wertschätzung und Gemeinsamkeit geschenkt wird“, einzurichten? „Vielleicht weil mir in meiner Kindheit nicht zugehört wurde“, sagt der 56-jährige Münchner. Aufgewachsen ist er im Neubauviertel Neuperlach, hat eine Ausbildung als Hotelkaufmann gemacht, dann Betriebswirtschaft studiert, war mit diversen Unternehmungen unterwegs, auch als Heilpraktiker: „Ich bin jemand, der gerne über den Tellerrand hinausschaut.“

Dann stieß er auf Christoph Busch mit seinem Hamburger Zuhörkiosk in einem U-Bahnhof – dort hört sich der Drehbuchautor seit 2018 die Geschichten der Passant*innen an. Als Spitzenberger von dieser Idee erfuhr, ist, wie er sagt, sein „Herz aufgegangen“. Und er hat das Projekt Zuhörraum angepackt.

Entworfen haben den Raum Studierende der Technischen Universität München im Rahmen einer Projektarbeit. Die Vorgaben: ein Rauminhalt von 75 Kubikmetern, in dem sich zwei Personen für ein Gespräch aufhalten können. Außerdem sollte eine Kaffeemaschine untergebracht werden und das Ganze mit Sichtbarkeit und dem Gefühl der Geborgenheit verbunden werden. Aus vier Entwürfen wurde einer ausgewählt und realisiert.

So steht der Zuhörraum aus Holz seit Oktober 2023 auf dem Stephansplatz nahe dem Sendlinger Tor. Und ist unter der Woche jeden Nachmittag von zwei Zuhörenden wie Barbara Weber besetzt; das macht zehn ehrenamtliche Mitarbeitende für die fünf Tage. Die Zuhörer*innen sind ein Team von momentan 35 Leuten. Laut Michael Spitzenberger stehen 45 auf der Warteliste.

Weitere Pläne hängen von der Stadt ab

Wie kommt man zum Zuhörteam, wie erfährt man von ihm? „Mich hat eine Kollegin darauf aufmerksam gemacht, und dann habe ich mir das mal angesehen“, erzählt Barbara Weber. Die Zuhörer können auch an einem Workshop teilnehmen, das sogenannte Momotraining. Dabei geht es um das „bewertungsfreie Zuhören“. Dabei sind zwar Verständnisfragen erlaubt, aber die Zuhörenden geben keine Tipps oder Ratschläge und auch keine Bewertungen. Wenn Leute aber direkte Hilfe brauchen, werden sie an die entsprechenden Hilfsorganisationen weitergeleitet.

Generell gehe es darum, Raum für den Sprechenden zu schaffen und dem anderen Menschen Zeit zu schenken. In Anspruch nehmen soll man den Zuhörraum aber nur einmal, damit auch Platz für andere bleibt. Michael Spitzenberger hat auch schon weiterführende Ideen. So ist ein neuer Zuhörraum in einer Münchner Klinik angedacht, was aber von der Förderung durch die Stadt abhänge. Und ein Architektenteam ist gerade dabei, einen Zuhörraum für ein SOS-Kinderdorf im Schwarzwald zu planen. (Rudolf Stumberger)
 

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