Leben in Bayern

Günes Seyfarth in ihrer Community Kitchen – nicht die einzige Idee, die sie in einem ehemaligen Allianzgebäude in Neuperlach umgesetzt hat. (Foto: Baur)

02.06.2022

Erst die Avocado, dann die Welt retten

In ihrem Restaurant Community Kitchen in München tischt Günes Seyfarth Lebensmittel auf, die sonst weggeworfen worden wären

Senf-Eier mit Bratkartoffeln und kleinem Salat hätten sie heute im Angebot. Oder auch eine Couscous-Bowl mit fruchtiger Paprikasauce, Papaya-Mango-Salat und einer halben Avocado mit Tomatenfüllung. Für den nicht ganz so großen Hunger gäbe es dann noch ein Sandwich mit Grillgemüse, Maisdip und Rucolapesto – auf Wunsch auch mit Käse. Und natürlich die Kuchen: Banana-Fudge-Brownie, Papayaschnitte oder Zimtschnecke.

Die Gerichte stehen auf der Tafel hinter dem Tresen der Community Kitchen, liebevoll mit verschiedenfarbigen Kreiden aufgeschrieben und mit allen notwendigen Informationen – vegan, laktosefrei, glutenhaltig et cetera – versehen. Auch die recht manierlichen Preise stehen hier: 5,50 Euro für ein Hauptgericht, 2,50 für ein Stück Kuchen. Aber die wirklich interessanten Zahlen liest man in Hellgrün in einer Spalte am Rand neben den einzelnen Speisen, es sind Prozentangaben: 95 Prozent für die Eier, 96 für die Bowl, Spitzenreiter ist mit 98 Prozent das Sandwich, die Kuchen kommen nur auf 65 bis 75 Prozent. Über der Spalte die ominöse Abkürzung „RQ“.

Immer wieder werden Aicha Aridi und Mohamed Dakar, die das Essen ausgeben, von den Gästen gefragt, was es mit diesen Zahlen auf sich hat. „RQ“, das steht für Rettungsquote, heißt: Die Couscous-Bowl etwa besteht also zu 96 Prozent aus geretteten Lebensmitteln. Das, was hier in München-Neuperlach seit ein paar Wochen geschieht, ist Food-sharing im großen Stil – und wenn es nach Günes Seyfarth, der Initiatorin der Community Kitchen, geht, ist es nur der Anfang.

Obst, Gemüse, Konserven: Gekocht wird, was es gibt

Neuperlach – das ist Münchens größte Trabantenstadt, mit der man nach dem Krieg dem Wohnungsmangel trotzte. Auch das größte Einkaufszentrum der Stadt befindet sich hier, nur einen Steinwurf entfernt, gleich neben der U-Bahn-Station. Und einige Bürogebäude. Eines davon steht seit gut einem Jahr leer. Hier setzt Seyfarth gemeinsam mit ihrer Partnerin Judith Stiegelmayr ihr Konzept um. Im vergangenen Sommer haben sie angefangen, am 1. Februar schließlich hatten sie die Nutzungsgenehmigung und konnten mit dem eigentlichen Restaurantbetrieb beginnen.

Je nach Lesart, sagt Seyfarth, sei Lebensmittelrettung die wirksamste oder zumindest drittwirksamste Maßnahme für den Klimaschutz. 168 Tonnen verzehrfähiges Essen landeten allein in München im Hausmüll. Jeden Tag. Und das seien ja nur die Lebensmittel, die vom Verbraucher weggeworfen würden. Lebensmittel würden jedoch auf allen Produktionsstufen vernichtet. „Der Bauer holt ja nicht einmal alles vom Feld rein, bei der Weiterverarbeitung wird dann wieder aussortiert, weil die Kartoffeln zu klein, zu groß, zu irgendwas sind“, schildert Seyfarth die Situation. „Im Großmarkt wird wieder Ware weggeworfen, und im Supermarkt schließlich bleibt vieles liegen, weil der Kunde nur das nimmt, was aussieht wie auf dem Werbeplakat.“ Deshalb werden in der Community Kitchen nun Lebensmittel verkocht und verspeist, die sonst vernichtet würden.

Der erste Weg führt Seyfarth und ihre Mitstreiter*innen daher jeden Tag, frühmorgens, in die Großmarkthalle, wo sie palettenweise Lebensmittel retten, für die die Händler sonst keine Abnehmer mehr finden. Anderes kommt auch direkt von Bauern oder verarbeitenden Betrieben, Molkereien zum Beispiel oder Großbäckereien. Wählerisch sein gilt nicht, gekocht wird, was in der Küche landet. Und dort stapeln sich gerade in den Kühlräumen Kisten voll mit Kartoffeln, Avocados, Papayas und jeder Menge anderem Obst und Gemüse. Auch Maisgrieß gibt es aktuell im Überfluss. Dazu kanisterweise Bohnen in Tomatensoße und tiefgefrorenen Fleischersatz ohne Ende. So viel Chili sin Carne kann man gar nicht kochen, um die 13 Paletten an den Gast zu bringen. Deshalb haben sie nun für einen Samstagvormittag eine große „Verteilaktion“ angesetzt. Wer kommt, kann so viele Packungen mitnehmen, wie er tragen kann.

Natürlich gibt es auch Zutaten, die knapp sind. Haltbares und stetig Nachgefragtes wie Mehl und Zucker muss zugekauft werden. Auch Fleisch gibt es bislang nur selten auf der Speisekarte. Man ist zwar im Gespräch mit Metzgereien, aber noch fehlt ein passendes Auto, um die Kühlkette beim Transport aufrechtzuerhalten.

Ein fest angestellter Koch kümmert sich mit einer Handvoll Praktikant*innen und freiwilligen Helferinnen und Helfern um die eingehenden Produkte: Sie werden nach Verzehrbarkeit sortiert, gewaschen, klein geschnitten und verkocht. Obst und Gemüse, das tatsächlich nicht mehr frisch ist, wird an den Tierpark abgegeben.

Günes Seyfarth hat sich auf die Eckbank am hintersten Tisch im Gastraum der Community Kitchen gesetzt, einen Cappuccino bestellt. Der Kaffee gehört zu den wenigen nicht geretteten Lebensmitteln, die es hier gibt. „Günes“ ist türkisch und bedeutet Sonne. Das erzählt Günes Seyfarth oft, wenn sie sich vorstellt; ihre Mails beendet sie mit „sonnigen Grüßen“. Und überhaupt strahlt sie mit der Namenscousine gern um die Wette. Wenn Zuversicht ein Gesicht hätte, es wäre das der 41-Jährigen. Sie ist keine, die sich so schnell abschrecken lässt, auch wenn der Ausgang eines Projekts ungewiss ist. „Ich habe sowieso viel mehr Freude am Weg, an der Problemlösung, als am Ergebnis selber“, sagt sie. Ihr falle manchmal auf, dass viele Menschen erst ihre Zeit für etwas investierten, wenn sie sich auch sicher sind, dass es etwas werde. „Bei mir ist es eher so: Ich weiß, wenn ich meine Zeit nicht investiere, wird es nichts. Also investiere ich sie.“

So wie damals mit der Kita. Seyfarth, Nürnbergerin, Ausbildung zur Tanzlehrerin, BWL-Studium, war gerade zum ersten Mal Mutter geworden – und hatte keinen Kita-Platz für den Sohn. Und da Kita-Plätze in München ähnlich leicht zu bekommen sind wie bezahlbare Wohnungen, gründete sie eben selbst eine Kita. Natürlich war es nicht so einfach, ein monatelanger Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie, aber am Ende erfolgreich. Das Ergebnis: die Elterninitiative Karl & Liesl. Es gibt sie noch immer, inzwischen sind zur Krippe ein Kindergarten und ein Hort dazugekommen, über hundert Kinder werden dort täglich betreut. „Es gibt einen Satz, den ich in dieser Zeit gelernt habe: Geh so weit, wie du sehen kannst, und wenn du da bist, kannst du weiter sehen.“

Mamikreisel, erzählt sie, war die nächste Gründung, eine Online-Plattform zum Kauf und Verkauf von Kinderkleidung. Es folgten eine Start-up-Beratung und weitere Projekte.
Seit zehn Jahren rettet Günes Seyfarth Lebensmittel, ernährt sich und ihre Familie überwiegend davon. Ein Freund hatte sie auf die 2012 in Köln gegründete Foodsharing-Initiative aufmerksam gemacht, sie schloss sich an, gründete den Münchner Foodsharing-Verein mit. 2019 organisierte sie in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Ernährungsministerium eine Foodtruck-Aktion, bei der an verschiedenen Orten in der Stadt gerettete Lebensmittel verkocht und an Passant*innen verschenkt wurden. Die Leute waren begeistert. Damit war das Konzept für die Community Kitchen eigentlich schon geboren. Und als Ende 2020 der Immobilienkonzern Hines Ideen für eine sinnvolle Zwischennutzung des Bürokomplexes in der Fritz-Schäffer-Straße für drei bis fünf Jahre suchte, stand Seyfarth mit der ihren gleich auf der Matte.

Bald will Seyfarth auch Kitas und Unternehmen versorgen

Es ist das ehemalige Allianzgebäude, in dem die Community Kitchen nun ins Leben gerufen wurde. Der Versicherungskonzern ist zum Jahresende 2020 ausgezogen, am Eingang befinden sich noch die Drehkreuze und Zeiterfassungsgeräte, die die Angestellten früher passieren mussten. Die Säulen sind bunt angemalt, neben dem Aufzug steht ein Klavier. Überall Plüschsessel und Sofas. Dazwischen eine Tischtennisplatte, ein Basketballkorb, ein Kicker. Topfpflanzen sorgen für das nötige Grün. Alles ist gespendet. Die Einrichtung versprüht den Flair eines Jugendzentrums, vermischt mit einem Hauch von Hausbesetzung und Wertstoffhof. Das bunte Allerlei geht eine interessante Verbindung mit der Siebzigerjahre-Beton-Architektur ein.

Längst breitet sich Seyfarth mit ihren Ideen schon im Rest des Hauses aus, zunächst in dem riesigen Erdgeschoss. Vom Secondhandmode-Laden über die Fahrradwerkstatt bis zum Künstlercafé, von der Lernothek bis zu diversen Werkstätten gibt es hier ein vielfältiges, noch immer wachsendes Angebot. „Shaere“ nennen sie es, ein „Campus des Lebens“ soll es sein.

Kern des Ganzen bleibt freilich die Community Kitchen in der ehemaligen Kantine der Versicherung. 2500 Essen sollen hier früher täglich ausgegeben worden, 30 Köche im Einsatz gewesen sein. Entsprechend groß und in vielen Teilen ungenutzt ist noch die Küche. So gibt es einen Raum nur für eine riesige Spülanlage. Heute lohnt sie sich natürlich nicht mehr. Rund 50 Essen verkauft die Community Kitchen pro Tag; Seyfarth hofft, möglichst bald auf 100 zu kommen. Die Kundschaft ist bunt gemischt, kommt in der Mittagspause aus den nahen Büros, sind Senior*innen aus dem Viertel oder Besucher*innen des Shaere, auch Schulklassen.

Um noch mehr Lebensmittel retten zu können und die Möglichkeiten der Großküche auszunutzen, wird allerdings nicht nur für die Gäste hier im Haus gekocht: Gläser mit Eintöpfen, Ratatouille, Marmeladen sollen demnächst in den Münchner Supermärkten stehen, Kitas, Schulen und Unternehmen mit Catering versorgt werden. Und Schulkinder können sich dann zwischen 7 und 8 Uhr ein „Schulbrot mit Frischekomponente“ abholen.

Seyfarth ärgert es, dass das Thema Lebensmittelverschwendung trotz seiner enormen Bedeutung so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Wenn Aktivistinnen und Aktivisten jetzt Autobahnen und Flughäfen blockieren, hat sie Verständnis dafür. „Meine Art ist es nicht, aber jeder macht das, was er kann.“ So wie sie.

Und dabei bloß nie stehen bleiben. Ihr Ziel, sagt Seyfarth, sei es, dass es in acht Jahren 4500 Community Kitchens weltweit gebe. Ein ambitioniertes Ziel. Aber wieso ausgerechnet 4500? Mit 9000 Community Kitchens, so habe man berechnet, könne man den 5,2 Milliarden Menschen, die in Städten lebten, eine Alternative zur Lebensmittelverschwendung bieten. Zumindest die Hälfte wolle man bis dahin erreichen. Anders lasse sich der Klimawandel schließlich nicht aufhalten. Unter der Rettung der Welt macht’s Günes Seyfarth nicht.
(Dominik Baur)

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