Leben in Bayern

Polizeiseelsorger Andreas Simbeck (rechts) im Gespräch mit Einsatzkräften und Fußballfans. (Foto: dpa/Wera Engelhardt)

23.05.2019

Erste Hilfe für die Polizistenseele

Belastende Einsätze, schreckliche Bilder: Manchmal brauchen Polizisten Beistand – bei Polizeiseelsorgern finden sie ihn

Terror, Fan-Krawalle, Stress daheim: Polizisten sind vielen Belastungen ausgesetzt. Polizeiseelsorger sollen ihnen helfen, schlimme Bilder zu verarbeiten. Und die Nachfrage nach ihrem Beistand steigt im Freistaat. Auch weil die Beamten sich heute trauen, auch mal Schwäche zu zeigen. Vor ein paar Jahren noch konnte man hören: „Wenn du das nicht aushältst, wärst du besser Sozialarbeiter geworden.“

Ein kleines Mädchen öffnete die Haustür. Ob ihre Eltern da seien, fragte der Polizist. Nein, antwortete das Kind, die Eltern seien geschieden, die Mama habe beim Freund übernachtet. Was es noch nicht wusste: Die Mutter war nicht beim Freund, sondern lag tot wenige Meter von der Tür entfernt. Erdrosselt von ihrem Ex-Mann.

So schildert Hauptkommissar Lothar Riemer jenen Einsatz vor etwa zehn Jahren, der sich tief in seine Seele eingrub. So tief, dass der heute 58-Jährige sich irgendwann Hilfe suchte – bei einer Polizeiseelsorgerin. Viele Polizisten in Bayern geraten früher oder später in solche Ausnahmesituationen. Bei der Unfallaufnahme. Wenn es ein Gewaltverbrechen gab. Wenn sie ihre erste Leiche sehen. „Im Einsatz verdrängt man alles“, sagt Riemer. Irgendwann aber kommt das Erlebte wieder hoch.

Dann kommen die Polizeiseelsorger der christlichen Kirchen ins Spiel. Sie begleiten Beamte beim Einsatz, stehen auf Abruf bereit, sollte jemand über seinen Kummer reden wollen. Auf diese Weise helfen sie den Beamten, die Bilder im Kopf zu verarbeiten. Und die Nachfrage nach dieser Art von Beistand steigt.

Ein Beispiel für so einen Einsatz: Samstagnachmittag, Münchner Innenstadt. Der katholische Polizeiseelsorger Andreas Simbeck begleitet eine Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizeiabteilung in München durch die Innenstadt. Am Abend spielt der FC Bayern gegen Borussia Dortmund. Restaurants und Kneipen sind voller Fans in Gelb und Weiß-Rot. Die Beamten sollen die Lage in der Fußgängerzone im Blick behalten, schauen, wo sich Konfliktgruppen auftun, und dafür sorgen, dass Streit zwischen Fans nicht eskaliert.

Die Belastungen haben zu genommen

Simbeck trägt eine dunkelblaue Jacke, in silbernen, reflektierenden Lettern steht „Polizeiseelsorge“ quer über der linken Brusttasche. Damit sticht er erst auf den zweiten Blick aus der Gruppe der Polizisten hervor. Simbeck findet es wichtig, dass Polizeiseelsorger wissen, was die Beamten in ihrem Alltag erleben. „Ich kann so ein Gespür für gewisse Situationen kriegen“, sagt er. Und später könne er anderen Polizisten von den Erfahrungen erzählen. „Das macht den Unterricht lebendiger und glaubwürdiger: Der ist Seelsorger, aber er hat Ahnung vom Beruf.“'

Von jenem Fußball-Samstag in München wird er nur Positives zu erzählen haben. Er endet friedlich. Laut bayerischem Innenministerium gibt es aktuell 16 katholische Polizeiseelsorger im Freistaat. Sieben arbeiten ausschließlich in den Präsidien der Landespolizei, weitere neun in den Abteilungen der Bereitschaftspolizei und in den Präsidien. Die Anzahl habe sich in den vergangenen Jahren nicht erhöht, aber der Stundensatz sei in den Diözesen Augsburg, Eichstätt und München-Freising angehoben worden. Die Seelsorger dort wenden also mehr Zeit für ihren Dienst bei der Polizei auf.
Zwei hauptamtliche und fünf nebenamtliche Polizeiseelsorger der evangelischen Kirche arbeiteten im Jahr 2010 bei der Bereitschaftspolizei. Im Jahr 2018 waren es 4,75 hauptamtliche Stellen und drei nebenamtliche.

Wieso ist die Hilfe der Polizeiseelsorger heute gefragter als noch vor zehn Jahren? Steigt der Druck auf die Beamten? Wächst die psychische und seelische Belastung angesichts von Bedrohungen wie Terroranschlägen und Amokläufen wie jenem am Olympiaeinkaufszentrum in München im Juli 2016? Lothar Riemer, der heute als Polizeilehrer bei der Bereitschaftspolizei in Dachau arbeitet, glaubt das nicht. „Solche Bedrohungen hat es immer gegeben.“ Er meint, dass es in der Gesellschaft heute eher akzeptiert würde, wenn Polizisten und Feuerwehrleute auch mal Schwäche zeigen. Deshalb bäten Beamte heute eher um Hilfe. „Es geht zunächst einmal darum, dass man es los wird.“

Den Eindruck teilt Andreas Simbeck. Er sieht aber einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie Beamte ihre Erfahrungen verarbeiten und solchen „lebensbedrohlichen Einsatzlagen“, wie sie bei der Polizei genannt werden. „Sie haben eines bewirkt: dass die Polizisten – auch die Männer – über ihre Ängste sprechen.“ Als er vor 15 Jahren anfing, habe es noch „die Haudegen“ gegeben, die gesagt hätten: „Wenn du das nicht aushältst, wärst du besser Sozialarbeiter geworden.“ Dass das Thema Fürsorge bei der bayerischen Polizei an Gewicht gewonnen hat, soll sich auch in der Ausbildung junger Beamter niederschlagen.

Der katholische Polizeiseelsorger Martin Zenk steht in einem Kursraum bei der Bereitschaftspolizei in Nabburg in der Oberpfalz. Er verteilt Kärtchen mit verschiedenen Szenarien an die 17 Polizeischüler vor ihm. Da geht es zum Beispiel um die Hochzeit eines gutes Freundes – die mit dem Polizeidienst am Wochenende kollidiert. Wem gerecht werden? Dem Kumpel oder dem Dienstherrn? „Pflichtenkollision“ ist das Thema im Fach Berufsethik, das fest integriert ist in der zweieinhalbjährigen Ausbildung zum Polizeibeamten. Denn es müssen nicht immer die dramatischen Einsätze sein, die die Beamten seelisch fordern. Auch die alltäglichen Konflikte gelte es zu bewältigen, erklärt Zenk.

Er beobachtet aber auch: „Die belastenden Einsätze werden mehr.“ Die Polizisten müssten Videomaterial auswerten, in dem ein Täter einen Menschen erschießt. Oder seien mitten drin, wenn bei Demos oder Fußballspielen gegnerische Gruppen aufeinanderstoßen. Das komme irgendwann wieder hoch. „Da brauchen die jungen Leute Beistand.“
(Wera Engelhardt, dpa)

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