Leben in Bayern

Harun Lehrer, umringt von seinen Schützlingen der Übergangsklasse an der Icho-Mittelschule in München-Giesing. (Foto: Goetsch)

10.03.2017

Lehrer als Improvisationskünstler

Wie macht man Kinder für die Mittelschule fit, die aus vielen verschiedenen Ländern kommen und weder deutsch noch englisch sprechen? Besuch in einer Ü-Klasse

Traumatisierte Flüchtlingskinder sitzen neben Schülern, die aus friedlichen Ländern kommen. Einige können weder lesen noch schreiben – auch nicht in ihrer eigenen Sprache. Andere wiederum könnten leicht aufs Gymnasium, sprächen sie deutsch. „Eine wahnsinnige Heterogenität“, sagt ihr Lehrer Harun Lehrer, dem es um weit mehr geht, als den Kindern die deutsche Grammatik beizubringen. Unterstützt wird er dabei auch vom BLLV mit Projekten wie „Paten für Übergangsklassen. Die Woche beginnt mit einem selbstgebastelten Stimmungsbarometer. Ein lachendes, ein neutrales, ein trauriges Gesicht aus Pappe. Die Kinder sitzen im Stuhlkreis drumrum, Harun Lehrer ruft sie Name für Name auf und bittet sie nach vorne. Er unterrichtet seit sechs Jahren Übergangsklassen, seit drei Jahren ist er an der Icho-Mittelschule in München-Giesing beschäftigt.

Wie kann das gehen: Kinder aus aller Welt, die kaum deutsch sprechen und in ihrer eigenen Sprache oft weder schreiben noch lesen können, gemeinsam fit zu machen für die Mittelschule? Kompliziert ist es, das mal vorweg.

Im Klassenzimmer in Giesing hängen eine Deutschlandkarte und eine Karte der Erde. Einzeln stellen sich die Schüler mit Namen vor, sie sagen, woher sie kommen, aus Uganda oder aus Afghanistan, aus Rumänien, Iran, Syrien, Italien. Sie erzählen auch, was sie am liebsten essen – da einigt man sich leicht: Pizza, Döner, Spaghetti – und welche Farben sie besonders mögen, auch das unterscheidet sich kaum. Die Sätze, die sie sagen, sind kurz und oft ohne Fehler. Und doch ist nichts einfach so dahingesagt. Anstrengung klingt heraus, das Formen ungewohnter Laute, die Grammatik, dazu die Aufregung, weil im Kreis jeder jeden anschaut.

Die Klasse ist seit Dezember 2015 zusammen, ein paar Schüler aber trudelten später ein, manche sind schon wieder verschwunden. Jederzeit kann ein neues Kind dazukommen. Harun Lehrer lebt damit, dass sich ständig alles ändert.

„In der Regel“, sagt Lehrer, „sprechen die Kinder weder englisch noch deutsch, wenn sie kommen.“ Manche waren noch nie in der Schule. Sie können nicht lesen und nicht schreiben, in keiner Sprache. Einige müssen erst auftauen, sie brauchen ein halbes Jahr, um „Gas zu geben“. Andere tun sich wahnsinnig schwer. Wieder andere lernen schnell und sind so aufgeweckt und schlau, dass sie sogar auf dem Gymnasium gut zurecht kämen – wenn sie denn deutsch sprechen könnten. Es gibt Kinder aus friedlichen europäischen Ländern und traumatisierte Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. „Eine wahnsinnige Heterogenität“, sagt Harun Lehrer.

Die Schüler heften ihre Wäscheklammern an das Stimmungsbarometer. Die meisten wählen das lachende Gesicht. Sie waren am Wochenende spazieren, haben Fußball gespielt, einen Geburtstag gefeiert oder Zeit mit ihrer Familie verbracht. Darum finden sie, dass es ihnen gut geht. Ein Mädchen ist in einen Nagel getreten. „Warst du beim Arzt?“, fragt Lehrer. Das Mädchen verneint. „Gehst du zum Arzt?“ Nicken. Weil der Fuß noch weh tut, heftet sie ihre Klammer an das traurige Gesicht. Andere befestigten die Wäscheklammer in der Mitte, da, wo die Welt weder gut noch schlecht ist, sondern einfach okay. Alles klingt nach einem ganz normalen Wochenende.

Einige der Kinder waren noch nie in der Schule

Aber für die Kinder der Übergangsklassen ist nichts normal. Seit dem Sommer 2015 sind viele als Flüchtlinge nach München gekommen. Harun Lehrer sorgt sich zum Beispiel um ein Kind, das mit acht anderen in einem Zimmer schläft. Er kennt auch Schüler in Flüchtlingsunterkünften, die morgens kein Frühstück bekommen, weil die Essensausgabe erst um halb acht öffnet. Ihm geht es deshalb nicht nur darum, dass seine Schüler irgendwann Verben ins Perfekt setzen können. Er hat auch einen pädagogischen Auftrag. Und den erfüllt er zum Beispiel dann, wenn er den Kindern morgens Butterbrezen schmiert.

„Auf der Flucht“, erzählt Harun Lehrer, „haben sie gelernt, ganz vorn dabei zu sein, damit sie etwas zu essen bekommen.“ Beim gemeinsamen Frühstück in der Schule bringt er ihnen bei, dass sie nicht drängeln müssen, weil genug für alle da ist. „Es geht gar nicht in erster Linie um Bildung“, sagt er, „sondern sehr oft um Erziehung.“

Und es geht darum, die Stadt kennenzulernen und ihre Regeln. Der jüngste Schüler ist zehn und ziemlich aufgeweckt. Er kommt aus Nigeria und liebt es, Fragen zu stellen. Wo war Harun Lehrer mit Frau und Kind am Sonntag frühstücken? Wo ist der Englische Garten? Lehrer verspricht, mit den Schülern einmal den Englischen Garten zu besuchen. Jede Woche geht er mit den Kindern raus in die Stadt, wo sie „ein Sprachbad“ nehmen sollen. Weil man eine Sprache nicht nur aus Büchern lernen kann, sondern mitten drin sein muss im Leben.

Auf seinen Ausflügen zeigt Lehrer den Kindern und Jugendlichen, wie das alles hier läuft. Dass man auf der Rolltreppe rechts steht, links geht, zum Beispiel. Oder wie man ein U-Bahnticket kauft. Dass man im Schwimmbad eine Zwei-Euro-Münze braucht, um seine Wertsachen einzuschließen. Sie fahren auch mal in die Berge, machen eine Schifffahrt auf dem Starnberger See, gehen ins Kino. Die Schüler waren sogar mit einer Klasse von Gymnasiasten im Rathaus, bei Christine Strobl, der dritten Bürgermeisterin, die ihnen erzählte, was sie so macht. Hinterher haben die Schüler Pizza miteinander geteilt.

Ein berührendes Bild, findet Waltraud Lu(c)i(´c) vom Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband (MLLV). Sie erinnert an die Zeit, als im Sommer 2015 Flüchtlinge in das bestehende Übergangsklassensystem eingegliedert wurden und kaum einer so recht wusste, wie man mit der neuen Situation fertig werden sollte. Der MLLV schulte die Kollegen. Ursprünglich waren einwöchige Kurse geplant. Weil die Lehrer vor Ort gebraucht wurden, musste man die Schulung aber kürzen und am Wochenende abhalten. Inzwischen wird der Kurs in einer Fortbildungsreihe am Abend angeboten. Noch immer stehen allerdings nicht genug Lehrer zur Verfügung.

Der MLLV unterstützt die Lehrkräfte mit Kooperationsprojekten, wie „Paten für Übergangsklassen“. „Es ist spannend, etwas auszuprobieren und sich seine Lösungen selbst zu erarbeiten“, erklärt Harun Lehrer. „Mühsam wird es allerdings, wenn es am Geld scheitert.“ Darum rief der MLLV Privatleute, Firmen oder Stiftungen dazu auf, sich als Paten für die Klassen einzusetzen. Kostenrahmen: 2000 Euro pro Klasse.

Wichtig: "Auch nach der Ü-Klasse braucht es Förderung"

Und so haben 70 von 110 Ü-Klassen inzwischen einen Paten gefunden. Sibun Aminian, Prokurist der noch jungen Firma Talent Garden, die Servicekräfte für gehobene Events vermittelt, ist einer von ihnen. Für seine Ü-Klasse setzt er sich nicht nur ein, weil er Lehrern und Schülern helfen will; auch seine Firma profitiert von der Patenschaft. „Wer heute gute Mitarbeiter finden will, muss nachhaltig sein und zeigen, dass er sozial engagiert ist“, sagt Aminian. „Eine Win-win-Situation“ für alle. Einen Satz Lehrbücher für tausend Euro hat Aminian den Kindern seiner Ü-Klasse zu Weihnachten vorbeigebracht. Aber weil er nicht nur Geld spenden will, begleitet er die Schüler auch auf Ausflüge. Er will „sehen, wie aus dem Pflänzchen ein Baum wächst“.

Auch Harun Lehrer hat einen Klassenpaten gewonnen, den er um Geld bitten kann, wenn er etwas braucht: Eintrittskarten für den Zoo oder das Museum etwa. Oder einen Satz Bildwörterbücher, mit denen die Schüler am besten lernen können.

Hilfreich sind aber auch die Lernpatenschaften „LUK“, die der MLLV zusammen mit der Ludwig-Maximilians-Universität auf den Weg gebracht hat. Zweimal pro Woche unterstützen Studierende die Kinder in Übergangsklassen. Das Geld kommt vom Kultusministerium und von der Bildungsstiftung der Stadtwerke. Ab September wird ein neuer Sponsor gesucht. Langfristig würde sich Lehrer die Unterstützung einer Sozialarbeiterin pro Klasse wünschen.

Die drängendste Frage allerdings bleibt für ihn, was nach den zwei Jahren kommt, die ein Kind in einer Übergangsklasse zubringt. Denn so durchdacht Harun Lehrer auch unterrichtet, so viel ihm auch einfällt in einer Situation, die ohne Improvisationstalent und Kreativität gar nicht zu meistern wäre: Nach den zwei Jahren Ü-Klasse kommt für die Kinder der Unterricht in der Mittelschule. Lehrers Schüler haben dann gerade mal gelernt, die Vergangenheitsform anzuwenden. Sie können einige fehlerfreie Sätze bilden. Das ist nicht viel, wenn man einen qualifizierenden Abschluss machen will. „Die Förderung muss auch in der Mittelschule weitergehen“, fordert Lehrer deshalb. „Sonst entlassen wir funktionelle Analphabeten.“
(Monika Goetsch)

Kommentare (1)

  1. Max59muc am 14.03.2017
    Ich bin der Vater von Harun. Mein Sohn leistet als Lehrer eine hervorragende Arbeit, die unserem Familiennamen alle Ehre macht.
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