Das Feuer im Greenfell Tower in London 2017 hat auch bayerische Behörden veranlasst, bei Hochhäusern die Brandschutzmaßnahmen unter die Lupe zu nehmen. In einer Nürnberger Hochhaussiedlung verstehen die Bewohner aber die Welt nicht mehr. Ihnen macht eine millionenschwere Fassadensanierung zu schaffen, die aus Sicht ihres Anwalts gar nicht notwendig gewesen wäre.
In Neuselsbrunn in Nürnberg verstehen die Bewohner die Welt nicht mehr. Mitten im Winter sind zunächst die Hochhausfassaden von einer angeblich brandgefährlichen Dämmung für einen Millionenbetrag im Hauruckverfahren befreit worden. Wochenlang mussten sie unerträglichen
Baulärm ertragen, nun haben viele der Wohnungseigentümer Probleme mit Schimmelpilz in ihrem unisolierten Zuhause. „Die ganze Ecke hier im Schlafzimmer hat geschimmelt und ich musste die Tapeten entfernen“, erzählt zum Beispiel Eugen Schuler und schüttelt den Kopf. Dabei ist sich der pensionierte Postbeamte, der seit über 50 Jahren mit seiner Frau im achten Stockwerk des Hochhauses wohnt, sicher: „Der Abriss der alten Fassade wäre überhaupt nicht notwendig gewesen.“
Und nicht nur Schuler kann nicht verstehen, warum die alte Fassade verschwinden musste. Die Eigentümer seien von dem Sanierungsplan der Hausverwaltung vollkommen überrascht worden, erzählt er. Dazu kommt: Die Bewohner müssten selbst für die Kosten der vermeintlichen Brandschutzaktion aufkommen. Bis zu 50 000 Euro sollen die Neuselsbrunner pro Wohnung für die Sanierung der Fassade berappen. Finanziell sei das für die meisten Bewohner schwer zu stemmen. Ältere Bewohner wie Schuler fürchten um ihre hart erarbeiteten Ersparnisse. „Wenn meine Frau ins Pflegeheim müsste, könnten wir die Wohnung hier gleich verkaufen“, sagt er.
Auf dem Balkon der Wohnung im achten Stock wird das Ausmaß der Fassadensanierung auf einen Blick sichtbar. Zurückgeblieben sind das Baugerüst und der nackte Beton, die angeblich brennbaren Heraklitplatten wurden mit dem Presslufthammer von der Hausfassade entfernt. Schuler und die anderen Bewohner sind der festen Überzeugung: „Es bestand keine Brandgefahr.“ Schuler erklärt fachmännisch, warum die Neuselsbrunner Dämmplatten nicht einen verheerenden Hochhausbrand wie beim Grenfell Tower in Großbritannien begünstigt hätten. Die Brandkatastrophe in England hatte auch die Behörden in Nürnberg veranlasst, die Brandschutzmaßnahmen bei Hochhäusern wie in Neuselsbrunn genauer unter die Lupe zu nehmen.
Jetzt will Söder mit OB Maly über Hilfen sprechen
Auch im dritten Stock des Nürnberger Hochhauses ist die Lage angespannt. Die Haseneders haben ebenfalls Schimmel im Schlafzimmer. Seitdem die Fassade weg ist, sind die Wände der Wohnung eiskalt. Die Heizkörper laufen auf vollen Touren, um die Temperatur in den Räumen einigermaßen erträglich zu gestalten. Überall summen Luftentfeuchter im Kampf gegen den drohenden Schimmel. Zusätzlich lüften die Bewohner ihre Wohnungen um die Wette. „Ich habe schon eine Erkältung vom vielen Lüften“, sagt Eugen Schuler. Die Stadt hat den Menschen in Neuselsbrunn immerhin versprochen, die durch den plötzlichen Abriss der Fassaden drastisch erhöhten Heizungskosten nicht über den städtischen Energieversorger in Rechnung stellen zu wollen. Gut zu sprechen auf die Stadt sind die Wohnungseigentümer dennoch nicht. „Ich bin besonders von Oberbürgermeister Ulrich Maly und der SPD enttäuscht“, sagt Schuler. Viele der Betroffenen in Neuselsbrunn hätten sich gewünscht, dass Maly die Menschen in der Hochhaussiedlung vor Ort besucht. Stattdessen fühlen die sich von Maly in Interviews von oben herab behandelt. Auf Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sind die Bewohner dagegen gut zu sprechen. Der nämlich habe sich die Probleme angehört und ihre Sorgen ernst genommen, erzählen sie. Söder will mit Maly nun über Unterstützungsmöglichkeiten für die Bewohner sprechen.
Selbst Stadträte, die direkt neben den betroffenen Hochhäusern wohnen, wollen sich offiziell zu dem Fall nicht äußern. Zumal sich in dem Fall eine spektakuläre Wende anbahnt, sollte der Nürnberger Anwalt der Bewohner, Klaus W. Kratzer, recht haben. Kratzer ist sich nämlich sicher, dass der großen Vonovia-Wohnungsgesellschaft als Verwalterin des Viertels ein kapitaler Fehler unterlaufen ist. „Was wir herausgefunden haben, spottet in der Tat jeglicher Beschreibung“, sagt der Anwalt Kratzer der Staatszeitung. Seine Recherchen hätten ergeben: „Erstens gibt es keinen Bescheid der Stadt Nürnberg, der die Entfernung der Fassaden verlangt hätte“, so Kratzer. Auf der Eigentümerversammlung im Oktober hätte die Bauverwaltung deshalb unter Vorspiegelung falscher Tatsachen die Erlaubnis der überrumpelten Eigentümer zur kostspieligen Fassadenrenovierung eingeholt, erklärt der Rechtsanwalt, der mittlerweile die Interessen von zahlreichen Wohnungseigentümern vertritt. Zweitens habe Vonovia die Fassadensanierung ohne Gutachten beschlossen.
Der Anwalt erklärt sich die fatale Fehlerkette so: Die Stadt habe Vonovia im Jahr 2018 mehrmals aufgefordert, ein Brandschutzgutachten vorzulegen. Als Vonovia nichts unternahm, hätte die Stadt mit Zwangsgeldern versucht, Vonovia zum Handeln zu bewegen. Bei einem Krisentreffen von Stadt und Vonovia im Herbst habe die unter Druck gesetzte Hausverwaltung sich dann praktisch freiwillig dazu entschlossen, die Fassaden im Hauruckverfahren für einen Millionenbetrag herunterzureißen. Der Fall Neuselsbrunn werde laut Kratzer für Vonovia in einem „absoluten Debakel“ enden. Auch die Rolle der Stadt bewertet der Anwalt wie die Bewohner kritisch. Die Nürnberger Verwaltung habe „einfach nur zugeschaut“. Statt ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen und mit eigenen Experten vorbeizuschauen, habe man die kleinen Leute in Neuselsbrunn im Regen stehen lassen.
Vor dem Nürnberger Amtsgericht hat Kratzer nun im Auftrag der Eigentümer eine Klage gegen die kostspielige Renovierung der Neuselsbrunner Hochhausfassaden eingereicht. Stefan Ollig, Geschäftsführer der Vonovia Immobilien Treuhand, bewertet den Fall Neuselsbrunn dagegen komplett gegenläufig. Aus der Perspektive des Verwalters stehe die Brennbarkeit der Fassaden und die damit verbundene Gefahrenlage „außer Frage“. Denn bei den brennbaren Materialien handele es sich laut Ollig um Styropor und Hartfaserplatten, die bereits im Jahr 1965 bei Erstellung der Hochhäuser verbaut worden seien. Durch die sofortige Sanierung der Fassade habe Ollig eine Räumung, mit der die Stadt gedroht habe, verhindern wollen.
(Nikolas Pelke)
Foto (Pelke): In Gabriela Haseneders Schlafzimmer macht sich Schimmel breit.
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